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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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und was er zum brechend vollen U-Bahn-Waggon beitrug, war ein Vorbote der Stimmung im Bestattungsinstitut, zu dem er wohl unterwegs war.
    Die Linie F, mit der Miriam von SoHo zum Rockefeller Center fuhr, war eigentlich kein Phänomen Manhattans, auch wenn ignorante Manhattaner das so sehen mochten. Die Linie fädelte entlegene Quadranten von Queens, Jackson Heights und Kew Gardens auf, Flächen, die noch Marschland gewesen waren, als diese Arbeiterviertel kartiert und die Bahnhöfe getauft worden waren. Nach einem kurzen Blick auf eine Krümmung an der Delancey Street, dem Sumpf der jüdischen Legenden, verließen die Züge die Halbinsel an deren Südostende und erforschten die nur den Toten bekannten Teile Brooklyns, tuckerten nach Coney Island weiter, den Freiluftkatakomben des Amusements, der dreckigen Promenade und dem Strand – die F war das Luftloch, durch das man von Queens ans Meer kam, wenn man zufällig auf den letzten Drücker das ganze Einwanderungsverfahren umdrehen wollte. Der springende Punkt war, dass der Mann mit dem Foto Einstiegsund Zielstationen an Dutzenden von Außenposten haben mochte, die Art James oder ihre Gegner sich gar nicht vorstellen konnten. Er fuhr nur zufällig bei Miriam und den anderen da unten im U-Bahn-Tunnel mit, siebzig Meter unter dem Rockefeller Center, und war in ganz andere Gefilde unterwegs. Wäre er ebenfalls an der 50th Street ausgestiegen und neben ihr ins Freie hochgestiegen, wäre er im Sonnenlicht zu Staub zerfallen. Als sie sieht, dass die Quote hier 3 : 1 beträgt, entscheidet sich Miriam gleichsam im Namen und Auftrag des Mannes für die »Wo«-Frage und setzt die höchste erlaubte Summe von fünfzig Dollar. Städte in der Krise? Sie kennt vielleicht nicht den Namen jeder einzelnen Station der Toten, aber sie beherrscht garantiert alle, die den Fragenschreibern beim Wer-Was-oder-Wo-Spiel nur einfallen mögen.
    Buchhalter Stone hat sich für »Was« mit niedrigerem Einsatz entschieden, kommt also zuerst an die Reihe. Art James liest die Frage vor: »Malviny Reynolds schrieb den Song ›Little Boxes‹ und schilderte darin die Standardisierung der Vorstädte und ihrer Häuser, die sie ›kleine Schachteln‹ nannte. Woraus bestehen diese kleinen Schachteln laut dem Song?« Bei dieser Frage fährt Miriam fast aus dem Trainingsanzug. Jeder, der den Song je gehört hat, was auch beim Buchhalter der Fall ist, kann wie er auf der Stelle »Teerpappe!« krähen, aber darum geht es nicht. Nach seiner Antwort beugt sich Miriam zu Graham Stone und informiert ihn mit einem Bühnenflüstern, damit Art James und weitere etwa Interessierte es mitbekommen: »Ich hab Malvina Reynolds mal getroffen!« Das war bei einer Party in der Wohnung von Dave Van Ronk und ist jetzt zehn Jahre her. Miriam hatte die alternde Folksängerin, die eher für die Arbeiterbewegung von Roses Generation stand, jedoch nicht weiter beachtet.
    »Ach ja?«, sagt Art James. »Na, ich bin gespannt, ob sie auch den Urheber des folgenden Zitats kennen – das wäre dann wirklich ein Glücksfall!« Art James hat es im Leben nicht umsonst so weit gebracht. »Das werden wir ja gleich erfahren. Der englische Schriftsteller und Sozialkritiker J. B. Priestley beschrieb eine amerikanische Stadt folgendermaßen, und ich zitiere: ›Babylon über das Rom der Kaiserzeit gestülpt.‹ Auf welche Stadt spielte er an?«
    »Ist das meine Frage?« Das wird rausgeschnitten, geht Miriam auf. Genau wie eben ihr Verstoß gegen das Protokoll und das Sendeformat – klaro, sie hat sich in Graham Stones Nahaufnahme gedrängt. In der ausgestrahlten Sendung wird beides nicht zu sehen sein. Das Wer-Was-oder-Wo-Spiel , dessen täglicher glatter Ablauf Miriam immer so verlässlich einschläfert, ist eine Konstruktion der Wirklichkeit, nicht ihre Dokumentation. Was die befreiende Einsicht mit sich bringt, dass sie hier buchstäblich alles sagen kann.
    Art James’ steifes Grinsen lässt sich nichts anmerken. »Das ist Ihre Frage.«
    Was hat J. B. Priestley denn in Miriams Städten in der Krise zusuchen? »Los Angeles?«, sagt sie. Ihr wird klar, dass ihr das obszöne Buch durch den Kopf gegangen ist, das in den Staaten auf dem Index steht und das ihr schwuler Freund Davis Storr immer auf dem Beistelltischchen liegen hat: Hollywood Babylon von Kenneth Anger, dem Mann mit dem unvergesslichen Namen. Man sollte ihr ein Zitat von Kenneth Anger oder Davis Storr präsentieren, von jemandem, der nicht so von Anno Tobak ist wie J. B. Priestley.

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