Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
sie sich jetzt gut fühlen, stattdessen fühlt sie sich aber eher schlecht. Miriam ist als nächste dran. »Der Song ›Sidewalks of New York‹ war 1894 ein Hit, wurde 1924 aber noch populärer, als er mit einem Präsidentschaftskandidaten in Verbindung gebracht wurde. Wie hieß dieser?«
Wieder ist Miriam von etwas abgelenkt, was eigentlich ihr Glück sein sollte: In jeder Kategorie sollte eine Frage, in der New York auftaucht,schon ihrer Herkunft wegen voll ihr Fall sein. Sie hört sich »Wendell Willkie?« sagen, und in dem Sekundenbruchteil vor Art James’ Antwort kommt der Schatten der Gewissheit, dass sie falsch liegt.
»Nein, Al Smith.«
Miriams Mittel für den künftigen Einsatz werden damit gleich zu Beginn dezimiert, die zweistellige Zahl an der Anzeigetafel sieht karg aus, armselig, dabei hat sie sich ausgemalt, sich in den vierstelligen Bereich durchzuboxen. Im Kielwasser ihres Patzers, mit dem sich Miriam kaum befassen kann, weil er im Summen der Jupiterlampen und dem Murmeln der Zuschauer untergeht – sprich lauter, du vornehmer Arsch! –, punktet Peter Matusevitch bei einer kinderleichten »Wo«-Frage mit einer 1 : 1 -Quote für fünfunddreißig Dollar: »›The Man Who Broke the Bank at –‹?« – »M-Monte Carlo?« Ist der Wachsschnurrbart wirklich unsicher? Stottert er leicht, oder spielt er bloß mit dem anfeuernden Interesse des Publikums, das, wie Miriam plötzlich aufgeht, gleich die seltene Krönung eines Wochen-Champions erleben wird? Man darf nie aus den Augen lassen, dass die Welt das Vertraute dem Unbekannten nun einmal vorzieht.
Matusevitch $ 160 Gogan $ 95 Stone $ 155
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Buchstabensuppe: »S.« »Buchstabensuppe« ist eine unbedeutende Kategorie, in der nur festgelegt ist, dass jede Antwort mit einem S beginnt, und Miriam wird vor dem kurz befürchteten Einsetzen einer leichten Paranoia bewahrt, die bei den heutigen Themen der Quizshow eine Bevorzugung von Wachsschnurrbart wittert: Barbershop-Quartette, Produktinnovationen von Ogilvy & Mather, Mitglieder von McKinseys Regierungskabinett. Sie sagt sich, dass sie dem Buchstaben S vertrauen muss, einem alten Kameraden, dem man sich einfach nicht entfremden kann. Irwin Shaw beispielsweise, Sozialer Wohnungsbau oder Studenten für eine demokratische Gesellschaft. Nina Simone. JonasSalk. Bobby Seale. Cardinal Francis Spellman. Joseph Stalin. Das System. Sex. Schmutz. Sie setzt wieder fünfundzwanzig auf »Wer«, diesmal bei 1 : 1. Matusevitch überbietet sie in derselben Kategorie, und deswegen wird ihr den Spielregeln zufolge in dieser Runde gar keine Frage gestellt.
Während Miriam sichtbar zwischen den beiden Männern in Vergessenheit gerät, vermasselt Graham Stone die Frage nach einer antiken Sprache des Mittleren Ostens und tippt statt des offensichtlichen »Sanskrit« auf »Sikh«, während Matusevitch wieder mühelos punktet und den Namen des Gangsters »Dutch –« mit »Schultz« ergänzt, auch das eine Antwort, die sie im Schlaf gegeben hätte. Haben sie beide womöglich genau dieselben Stärken? Miriam ist ihrem Mann in zehn Jahren nie untreu gewesen, aber irgendwann ist immer das erste Mal. Kann sie Art James um eine Auszeit bitten und Matusevitch in den Greenroom zurücklocken? Vielleicht muss sie ihn vögeln, um ihm den selbstgefälligen Schnurrbart aus dem Gesicht zu wischen.
Matusevitch $ 200 Gogan $ 95 Stone $ 130
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Städte in der Krise. Die Ankündigung dieser Kategorie ist Balsam für Miriams Ohren und heiligt ihre Anwesenheit. Tief im Herzen fühlt sie sich als Bewohnerin einer Stadt in der Dauerkrise, einer wahren Heimat jenseits der Reue. Wenn »Städte in der Krise!« der Name einer Quizshow wäre, dann könnte Miriam Gogan gut ihr Rekordchampion sein, oder gleich ihre Moderatorin. Auf der Herfahrt mit der Linie F saß Miriam neben einem Puertoricaner oder Dominikaner, den sie auf Ende fünfzig schätzte und der seinen besten Anzug mit der unverfänglichen Tragik eines Mannes trug, der sich seit dreißig Jahren keinen neuen Anzug mehr gekauft hat, die graue Spezialkleidung eines Turniertänzers, die Hose mit Spuren, wo sie beim Faltenbügeln versengt worden war. Der Mann hatte eine große Fotografie in einem schwerenRahmen mit Silberschnörkeln dabei, das Schwarzweißporträt einer jungen Frau mit einer klobig glitzernden Halskette über einem hochgeschlossenen Kleid. Tote Tochter, tote Frau oder tote Schwester – der Mann und sein Foto verkörperten einen Kummer, der einen schaudern machte,
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