Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Kiefernzweige hinter den dreckigen Fenstern ausblendete, konnte man glauben, in der Triangle Shirtwaist Factory zu sein, nur mit dem Vorteil, dass man hier aus dem Fenster springen konnte und nicht zehn Stockwerke tief auf Asphalt fiel, sondern nur einen Meter tief in Dreck und Kot, dessen alles durchdringender Gestank sich noch verschärfte, als sie zur zentralen Farm gingen.
Der Gestank war egal. Ihre Führer bildeten sich vielleicht ein, John Reed und Emma Goldman die Sowjetunion zu zeigen. Sie waren so beflissen, Alberts und Roses Respekt zu erwerben, wie man sich nur wünschen konnte; in ihrer Naivität hinsichtlich des Tagesprogrammsdachte Rose anfangs, ihre phantastische Unterwürfigkeit gelte dem geliehenen Packard. Aber das spielte alles keine Rolle. Es hatte keinen Sinn, es konnte nicht funktionieren. Sie waren hier nicht in Lettland oder der Ukraine, sie waren in New Jersey, und Roses Snobismus in Bezug auf die Mickrigkeit dieser Grenze ließ sich nicht beschwichtigen.
Das Anwesen war erbärmlich, einfach trostlos. Die politische Hingabe derer, die in die Jersey Homesteads gezogen waren, reichte vom fortschrittlichen Sympathisanten bis zum kompromisslosen Zellenmitglied, aber wer hatte schon Zeit für das Organisieren, wenn man in Baumwollabfällen und Hühnerscheiße erstickte oder gräuliches Wurzelgemüse schälte, das im Abfall besser aufgehoben war, als dass es zu Suppe verkocht oder gar als »Salat« angerichtet wurde. Das hatte die Wirtschaftskrise also aus ihnen gemacht. Das hatte die Wirtschaftskrise also aus dem Kommunismus gemacht. Statt die Revolution zu schüren, hatte sie sie im Keim erstickt – eben weil das aufzüngelnde Flämmchen der amerikanischen Revolution im Salon genährt wurde, verflackerte und starb sie in der bräsigen, schwieligen Phantasie des amerikanischen Arbeiters. Rose musste gewissermaßen gedanklich neu ansetzen: Diese Grenze war tatsächlich genauso fern wie die Großen Ebenen, denn nach nur einstündiger Fahrt nach New Jersey hinein war vom Pochen der europäischen Geschichte absolut nichts mehr zu spüren. Das war wieder mal die Geschichte Amerikas. Begab man sich in die staubige Leere dieser darbenden Utopie, erstickte man sofort am Mangel geistigen Sauerstoffs.
Sie hatten die große Wiese im Zentrum erreicht, und Rose dämmerte langsam, dass hier eine Veranstaltung geplant war, die der eigentliche Grund ihres Besuchs an genau diesem Tag war. Kein Rasen, sondern eine Wiese, die garantiert nicht gemäht, sondern geheut worden war, von so einem Ding, das ein Traktor hinter sich herzog, so dass der Boden, auf dem Klappstühle aufgestellt und Decken ausgebreitet worden waren, pustelig und stachlig war, wo vom Sensen entblößte Feldsteine lagen, die ehedem der Wildwuchs bedeckt hatte, und wo ein niedrigesHolzpodium für eine Kapelle oder einen Redner errichtet worden war. Waren die Juden in den Homesteads dermaßen bescheuert, dass sie einen Squaredance abhalten wollten, um sich zu beweisen, dass sie wirklich in den Westen gezogen waren? Jetzt tauchten sie mit Körben aus den einstöckigen Betonhäusern auf, diese Bauernjuden, diese Waldjuden, diese Schneider, deren Frauen mit ihrem ganzen Körper um die soziale Zuflucht einer Wohnstatt zu flehen schienen, um ihr Leiden zu artikulieren, ein Leiden, das hier stattdessen im gleißenden Sonnenlicht schwärte. Gott sei ihnen gnädig. Um das Podium herum strichen die Frauen ihre Decken glatt, soweit sich diese auf dem unebenen Grund glattstreichen ließen. Sie stellten ihre Körbe ab, und in der sonnengesprenkelten Nachmittagsstille widmeten sie sich etwas, das sich nur als Picknick bezeichnen ließ.
Bis auf drei Klappstühle war das kleine Podium mit dem Flaggentuch leer. Was sollte hier stattfinden? Rose hoffte, zu gehen, bevor sie es herausfand. Da sie auf Langeweile eingestellt war, hatte sie den Band über Lincoln aus dem Wagen mitgenommen: Vor der krankmachenden Autofahrt in die Zivilisation zurück würde sie sich in Sandburgs Prosa verlieren. Sie hatte genug gesehen. Der Tag, an dessen Anfang sich Rose ernsthaft auf verrückte Aussichten hatte einstellen müssen, hatte sein Ende erreicht. Die Gewissheit, dass sie hier niemals leben würde, spürte sie als Titanseil in der Seele.
Albert brachte sie zu der Decke, auf der Samanowitz, der Farmer im Overall, und seine Frau Yetta saßen. Rose übte sich in gleichgültiger Vorwärtsverteidigung gegen die Nettigkeiten der Etikette. Yetta Samanowitz erinnerte an das
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