Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
unscharfe Schwarzweißfoto einer Großmutter aus einem Städtchen im Niemandsland zwischen Polen und Russland, eine Figur in einem Rahmen oder Medaillon, nur beugte sich diese graue Gestalt zu einem herüber, bot einem einen Teller mit Eiersalat, Essiggurken und gehackter Leber auf Toast an – Gott bewahre, wie konnte man in dieser Hitze gehackte Leber essen? – und sagte in ganz normalem Englisch: »Essen Sie doch einen Bissen. Und wie wäre es mit einem Glas Tee? Sie hätten einen Hut gegen die Sonne mitbringensollen, ich kann ins Haus gehen und Ihnen einen holen, wenn Sie möchten.«
    »Danke, das ist nicht nötig.« Roses Metallseil straffte sich nur, als wäre das eine Ende am Himmel festgeknotet, das andere am Erdkern, und diese verfluchte Wiese wäre zwischen beiden aufgefädelt. Als gleich darauf Albert und ihre beiden Eskorten, der Farmer und der Schlepper, in der darrenden Sonne auf das Podium stiegen und winkten, begriff sie, dass Albert zu der Versammlung sprechen würde – wenn man die auf der Stoppelwiese schmelzenden verstreuten Seelen, die im grellen Tageslicht gelähmten Juden überhaupt eine Versammlung nennen konnte –, und das Seil verknotete sich zu einer Brezelform.
    Albert und der Farmer setzten sich, und der Angestelltentyp blieb stehen und räusperte sich laut in die Hände, hatte kein Mikrophon, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich ziehen, aber bis auf die Kinder verstummten alle sofort. Er stellte Albert Zimmer vor, den seltenen Gast aus New York City, »einen bedeutenden Organisator und Redner«. Hier draußen war Albert vielleicht Bedeutung beizumessen, dachte Rose, quasi als dem Einäugigen unter den Blinden. Vielleicht zog ihn gerade das an. Wie lange ihm die Überbleibsel der geliehenen Bedeutung nach dem Herzug anhaften würden, war eine andere Frage. Rose hatte den Eindruck, dass an diesem Ort jede Bedeutung starb.
    Albert dankte Ostrow, der ihn vorgestellt hatte, dem hinter ihm sitzenden Farmer Samanowitz, der nichts gesagt hatte, und dann den Anwesenden, die ihn »ausgerechnet an diesem Tag« hier willkommen hießen. Rose verstand nicht, was das ausgerechnet an diesem Tag sollte, aber Albert wurde mit dem leichten Applaus eines Grüppchens belohnt, das zunächst einmal sich selbst dazu gratuliert, am Leben zu sein.
    »Als Erstes möchte ich euch etwas sagen, das euch vielleicht überraschen wird«, begann Albert. »Als Erstes möchte ich euch nämlich sagen, dass ich große Stücke auf euch halte, als Arbeiter, als Familien, aber auch als Amerikaner. Ihr alle seid, wie ihr hier vor mir sitzt, herausragende Amerikaner, besser als euch bewusst ist. Besser als viele andere. Ich betone das, weil ich bei meiner Vorbereitung auf diesesTreffen, aber auch bei der Führung heute Vormittag Geschichten gehört habe, dass man euch in den Nachbarstädten nichts verkaufen will, wenn man hört, dass ihr aus den Homesteads kommt. Weil es heißt, dass ihr hier Kommunisten seid. Ich habe gehört, dass man eure Kinder in Monroe nicht zur Schule gehen lässt. Weil ihr Juden seid und als Rote verdächtigt werdet.«
    »Sprich Jiddisch!«, erscholl ein Ruf auf der Wiese, gefolgt von vereinzeltem Applaus.
    Yetta flüsterte der zusammenzuckenden Rose ins Ohr: »Irgendwer sagt das immer, bei der Hälfte aller öffentlichen Versammlungen.« Sie klang resigniert. »Wenn die Versammlung auf Jiddisch stattfindet, brüllt die andere Hälfte ›Sprich Englisch‹. Man kann es nie allen rechtmachen.«
    »Er könnte nicht mal Jiddisch sprechen, wenn er wollte«, sagte Rose. Yetta verstummte. Als lahme Entschuldigung und trotz ihres Brüder-Grimm-Aberglaubens, dass sie ihren Körper mit den Eigenschaften dieses Ortes vergiftete, wenn sie von seinen Erzeugnissen kostete, griff Rose, sonst so ein Refusenik, nach einem mit gehackter Hühnerleber und gerösteten Zwiebeln bestrichenen Toast. Er war frisch. Sie war am Verhungern.
    »Jetzt könnt ihr euch natürlich auch fragen, wer das eigentlich ist, der hier einfach so ankommt und eure Errungenschaften als Amerikaner preist. Ich gestehe sofort, dass ich nichts Besonderes bin und keine andere Autorität mitbringe als die, ebenfalls ein Amerikaner zu sein, ebenfalls ein Bürger dieses Landes, aber auch dieser Welt, wie ihr ein Bürger der menschlichen Zivilisation und als solcher nicht nur im Recht, zu euch als Gleicher unter Gleichen zu sprechen, sondern auch im Recht meiner Überzeugungen. Um meine Überzeugungen weiterzugeben, gegen Vorurteile wie die,

Weitere Kostenlose Bücher