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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Ruhe.»
    «Bis jemand kommt und dir im Schlaf die Kehle durchschneidet», sagt Nasra.
    «Das wird aber nicht passieren, wo ich schlafe, findet mich niemand.» Trotzdem läuft es Deqo kalt den Rücken hinunter.
    Die Frauen sehen ihr direkt in die Augen. Sie sehen sie auf eine Art an, wie dies die meisten anderen Menschen nicht tun, sie muss nicht pausenlos um ihre Aufmerksamkeit buhlen.
    Nasra streicht Deqo über das Haar. «Was ist das für ein Gefühl, in deinem Alter ganz allein auf sich gestellt zu sein?»
    Die Frage trifft Deqo wie ein herabstürzender Ast. Sie scharrt mit den Füßen und versucht sich durch die Worte zu lavieren, die sich auf die Lippen drängen: beängstigend, ermüdend, frei, verwirrend, aufregend, einsam. Sie murmelt etwas Zusammenhangloses und verstummt. «Ich kann immer noch ein schönes Leben haben.»
    Mit Tränen in den Augen sieht Nasra auf sie hinab.
    «Wenn du Glück hast, schon. Bist du ein Glückspilz?», fragt China. Der Alkohol lässt sie lauter werden.
    Lächelnd legt Deqo den Kopf schief. «Manchmal schon. Gerade habe ich draußen einen zerrissenen Schilling-Schein gefunden, das ist doch ein ziemliches Glück.»
    «Du wirst ein bisschen mehr Glück nötig haben, Kind.» China wirft den Kopf in den Nacken und stößt ein Lachen aus, das von den Mauern und dem Blechdach widerhallt. Ihr Baby wacht auf und fängt im Zimmer drinnen an zu weinen. «Oh, sei still!», brüllt sie und schließt die Türe mit einem Knall.
    «Gib das Geld hier der Frau, die dich geschickt hat.» China zählt hundertfünfzig Schilling von einer dicken Rolle ab und quetscht sich wieder in das schmale Zimmer. «Viel Glück, Kleine», sagt sie und verabschiedet Deqo mit einem Winken.
    Nasra bringt sie zur Vordertür und schiebt ihr zehn Schilling in die Hand.
    Im Begriff wegzugehen, bleibt Deqo plötzlich stehen und dreht sich zu Nasra um.
    «Kann ich dich was fragen?», flüstert sie.
    «Hä? Ich kann dich nicht hören.»
    Deqo beugt sich weiter vor. «Kann ich dich was fragen?»
    Vorsichtig nickt Nasra.
    Nervös leckt sich Deqo über die Lippen. «Bist du eine Hure?»
    Nasra erstarrt vor Wut, aber Deqo rennt nicht weg, lacht auch nicht, mit großen Augen wartet sie auf die Antwort.
    Ein paar Augenblicke vergehen, dann schleicht sich ein Funkeln in Nasras Augen, und ihr Lächeln beantwortet die Frage.
    Eine Stunde später kauert sich Deqo am Straßenrand nieder, beißt in ein Lammbaguette, das Brot ist altbacken, das Lammfleisch kalt, aber das stört sie nicht. In Gedanken geht sie immer wieder das Gespräch mit Nasra durch. Wenn sie eine Hure ist, dann muss China auch eine sein, aber warum hat sie ihr Kind behalten? Wenn sie es nicht irgendwo zurücklassen musste, warum hatte dann ihre eigene Mutter sie zurückgelassen? Deqo kommt der Gedanke, dass ihre Mutter sie vielleicht bei sich hätte behalten können, und sie schluckt schwer. Fand sie etwas anDeqo nicht in Ordnung? Rannte sie weg vor einem Kind, dem das Unglück ins Gesicht geschrieben stand? Wie um diesen Gedanken zu unterstreichen, fährt ein Auto neben ihr durch eine Pfütze und spritzt ihr schmutziges Wasser auf die Beine. Sie steht auf und wischt sich Tropfen und Brotkrümel ab, kickt frustriert einen Stein gegen ein Autoheck. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck und melancholischen Gedanken geht sie zurück zu Nasras Haus.
    Der Himmel öffnet seine Schleusen, und sie rennt schlitternd los. Der Regen riecht frisch, berauschend und grün, er reinigt die Stadt und bringt auf den Häusern die Farbe wieder zum Leuchten. An einer Mauer beim Markt hängt das Porträt des alten Mannes mit den vorstehenden Zähnen; der Präsident. Es ist ihr oft aufgefallen, aber jetzt sehen die Regentropfen, die ihm über das Gesicht laufen, wie Tränen aus, und Deqo bleibt stehen, plötzlich gefesselt von seinem traurigen Gesichtsausdruck; trotz der Militäruniform und der Goldtressen sieht er sie unendlich einsam an. Die dunklen Wolken und die leere Straße verdüstern ihre ohnehin schon trübe Stimmung noch mehr; bei so einem Wetter sollte man zu Hause bei seiner Familie sein, gemütlich vorm Feuer sitzen, spielen oder dösen. Sie fühlt sich betrogen, betrogen und von der Welt verschmäht. Sie wischt dem Porträt die Tränen ab und geht weiter, am Hauptmarkt und dem antennenohrigen Radiosender vorbei, an der Außenmauer einer großen Schule entlang, in der Kinder lärmen, die geliebt werden, und über ihren Fakirmarkt.
    Zitternd erreicht sie Nasras Straße, Wasser rinnt

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