Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Deqo über die Nase und unter dem Kleid am Körper hinab. Die Straße hat sich völlig verändert, sie ist voller ausgelassener Kinder, die halbnackt im Regen tanzen und ihre Münder weit aufgerissen dem Himmel entgegenrecken. Flügelschlagend rennen Hühner zwischen ihren Beinen herum, und Ziegen werden in ihren Armen zum Tanz auf den Hinterbeinen gezwungen. Aus jeder Behausung dringt eine musikalische Kakofonie: Lieder aus dem Radio, verzerrte Töne ausgeleierter Kassetten und das Trillern der Frauen. Der Morast des Abzugsgrabens fließt jetzt als kleines Bächlein dahin, die Plastiktüten, die sich in den Ästen der Bäume verfangen haben, glänzen wie Luftballons. Ein ungefähr achtjähriges Mädchen, demdas Haar am Kopf klebt, rennt auf Deqo zu und zieht sie ins Getümmel, hält sie eng an sich gedrückt und dreht sich im Kreis herum wie ein Derwisch, kichert unausgesetzt. Auch Deqo lacht, genießt die Trance, ihre Traurigkeit schwebt empor und verharrt einen Augenblick, dann rutscht das Mädchen aus, und beide landen im Matsch, die Glieder ineinander verhakt.
«Wie heißt du?», keucht Deqo.
«Samira, und du?»
«Deqo.»
«Ich hab dich noch nie gesehen.» Das Mädchen lächelt und zeigt dabei kleine braune Zähne.
«Ich komme von weit her.» Deqo kennt das schon, wenn sie den Leuten erzählt, dass sie aus dem Flüchtlingslager ist, verschwindet das Lächeln.
Eine barfüßige Frau springt auf sie zu, sie ist dünn und verärgert. «Samira! Samira! Steht sofort aus dem Dreck auf, du Ferkel!»
«Ich muss gehen.» Samira hüpft auf die Füße, bevor die Frau ihr einen Schlag auf den Hintern versetzen kann. Sie rennt in die Hütte, und die Frau folgt, stochert wie ein Stelzvogel durch den Schlamm.
«Deqo, bist du das?»
Deqo hebt den Kopf aus dem Schlamm und sieht Nasra, die sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtet. Schlitternd richtet sie sich auf und wischt sich die Dreckspuren aus dem Gesicht.
«Komm rein, du wirst sonst krank», befiehlt Nasra.
Ein Tongefäß, in dem Weihrauch brennt, verbreitet ein klein wenig Wärme im Zimmer. «Im Moment gibt’s kein Wasser, du musst eben noch ein Weilchen dreckig bleiben», sagt Nasra, während sie mit einem Handtuch Deqos Haar und Körper abreibt.
Allmählich wird ihre Haut wieder warm, und Deqo sieht sich im Zimmer um: Die rosa Wände sind mit Filmpostern dekoriert, auf dem blauen Linoleum liegt ein Fellteppich und weißes Mobiliar drängt sich um sie herum. Das ist das schönste Zimmer, das sie je gesehen hat. Als sie zusammenrechnet, was die Möbel, die Kleidung, die Dekoration, derKrimskrams und die Schminksachen auf dem Markt gekostet haben müssen, muss sie tief Luft holen. Als Hure lebt es sich aber gut, denkt sie.
«Ich stell schnell Milch auf den Herd.» Nasra lässt das Handtuch aufs Bett fallen und verlässt das Zimmer.
Auf Zehenspitzen geht Deqo zu dem Tisch hinüber, auf dem gerahmte Fotos stehen; alle Bilder zeigen Nasra, aber nur auf einem lächelt sie. Ihr Blick wandert weiter, und sie nimmt Fläschchen mit Nagellack in die Hand, eines nach dem anderen: Blassrosa, Pink, Dunkelrot, Metallicblau – sie würde sich gern die Fingernägel lackieren, jeden in einer anderen Farbe. Alles in diesem Zimmer ist hinreißend, alles soll dem Vergnügen dienen; der weiche Teppich fühlt sich unter ihren geplagten Füßen himmlisch an, Pailletten funkeln an den hauchdünnen violetten Vorhängen, auf dem Bett sind Kissen aufgetürmt. Sie hat Mühe zu begreifen, warum Hure zu sein eine Schande ist, wenn das Leben dadurch so luxuriös wird. Sich schön machen ist wahrscheinlich das Einzige, wozu Nasra geeignet ist; sie ist viel zu zart und hübsch, um im Marktstaub zu schuften oder auf den Knien anderer Leute Fußböden zu schrubben.
Nasra kommt mit zwei Bechern Milch zurück. «Vorhin musste ich an dich denken.»
Deqo lächelt und verbirgt schnell den Mund hinter der Hand.
«Es ist nicht recht, dass ein Kind, zudem ein Mädchen, auch nur in der Nähe dieses Grabens schläft, bei all den wilden Hunden und den noch wilderen Männern. Wenn du magst, kannst du hierbleiben, in der Küche wäre Platz zum Schlafen, und nachts hättest du es warm. Wir können ein wenig Hilfe im Haus gebrauchen – putzen, einkaufen. Du könntest dich auch um Chinas Baby kümmern. Das würde dir doch bestimmt gefallen?»
Deqo sieht ihr geradewegs in die Augen. «Warum willst du mir helfen?»
Nasra stellt ihren Becher auf den Boden und setzt sich auf das Bett. «Weil ich einmal
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