Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern, alle. Mein Vater, Gott möge seiner Seele Frieden schenken, hat in einem Kino gearbeitet, bevor es geschlossen wurde, und ich durfte oft bei ihm im Vorführraum sitzen.»
«Du würdest eine gute Schauspielerin abgeben, dein Gesicht ist sehr ausdrucksstark.»
Nurto lächelte. «Ich wäre bestimmt eine tolle Schauspielerin. Ich muss bloß von hier weg, und dann kann ich tun und lassen, was ich will.»
In der Stille schiebt die Uhr die Zeit voran; als Nurto aufsteht, hat das Gewicht ihrer Sehnsucht eine Kuhle in der Matratze hinterlassen.
Etwas kitzelt Kawsar in der Nase und entlockt ihr ein Niesen.
«Allah!» Nurto rast barfuß in die Küche, als der Geruch nach verbrannten Kaffeebohnen stärker wird.
Gegen vier Uhr nachmittags ist die Ausgangssperre umfassend durchgesetzt, und als stünde die Sonne gleichfalls unter dieser Tyrannei, verdunkelt sich vorzeitig der Himmel, Wolken verbergen bedrohlich Mond und Sterne, die auf ihre Positionen geeilt sind. Die verdunkelte Stadt scheint nur noch eine Bühne zu sein, auf der die Soldaten herumstolzieren können, und der Bungalow eine Höhle, vor der Bären und Monster ihr Unwesen treiben und vor der ein geheimnisvolles Kreischen zu hören ist; Kawsar und Nurto drängen sich zusammen wie Kinder, die Angst davor haben, was die Dunkelheit wohl bringt. Nurto war pünktlich aus der Videohalle zurück, zerrte ihre Matratze näher heran und lehnte sich mit dem Rücken an das Bettgestell, ihr Haar war nur ein paar Zentimeter von Kawsars Fingern entfernt, die Locken leuchteten im Nacken rot und fein im Licht der Petroleumlampe.
Das Radio läuft auf niedrigster Lautstärke; der Regierungssender spricht von den Versuchen, die Versteppung um Banaadir zu stoppen, von Höflichkeitsbesuchen des Präsidenten bei ausländischen Potentaten– geregelte Abläufe eines Staats in Friedenszeiten; Radio NFM dagegen berichtet über Ereignisse in einem anderen Land, einem Land, in dem die Wasserspeicher zerstört, ausländische Waffen gegen unbewaffnete Nomaden eingesetzt und Gefängnisse gestürmt werden, um Unschuldige zu befreien. Beide Orte sind gleichermaßen unbegreiflich; von ihrem Bett aus glaubt Kawsar nur an die Existenz einer dunklen leeren Straße da draußen mit ein paar Bungalows und einer alt gewordenen Welt, die verfällt und bald untergehen wird.
Am nächsten Morgen schreckt Kawsar aus dem Schlaf, die Tür erzittert in ihrem Rahmen, wildes Hämmern, Pause, erneutes Hämmern. Nurto schnellt von ihrer Matratze empor und steht benommen mitten im Zimmer und wartet auf Anweisungen. Immer noch wird heftig gegen die Tür gehämmert.
Zitternd befestigt Kawsar ihr Kopftuch und bedeutet Nurto, sie solle öffnen.
Das Mädchen versteckt sich hinter der Tür, öffnet alle Schlösser und macht langsam auf.
Dahabo drückt die Tür ganz auf und kommt herein.
«Willst du uns etwa zu Tode erschrecken? Wir dachten, die Rotbaretts kommen und brechen uns die Knochen!», schreit Kawsar.
«Na ja, wenn du mir nicht die Tür aufmachen willst, muss ich eben zu anderen Mitteln greifen.» Sie marschiert zu Kawsar hinüber und zieht ihr grob die Decken weg. «Du kommst mit mir. Draußen steht ein Auto, das uns nach Mogadischu bringt, von dort fliegen wir nach Dschidda.»
Kawsar wirft sich die Decken wieder über die Beine. «Du bist wohl verrückt!»
Dahabo reißt die Decken erneut weg. «Ich habe die Abreise unserer gesamten Familie hinausgezögert, um dir ein Ausreisevisum zu verschaffen. Blamier mich jetzt also nicht.»
Kawsar lässt die Decken, wo sie sind, und verschränkt die Arme wie ein gescholtenes kleines Mädchen. «Wer hat dir meinen Pass gegeben?»
«Wer wohl?» Dahabo deutet mit dem Kopf auf Nurto, die sich ineine Ecke drückt. «Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass es Zeit ist, wegzugehen. Wenn du aufstehen und herumlaufen könntest, würdest du überall die Soldaten sehen, den halb leeren Markt. Nimm mit, was unersetzlich ist, und dann lass uns gehen.» Sie ergreift Kawsars Hand und zieht sie sanft nach vorn.
Kawsar entzieht sich ihrem Griff und verschränkt wieder die Arme. «Keiner hält dich auf, Dahabo. Wenn du gehen willst, dann geh.» Ihr Herz rast, ihr Kopf fühlt sich taub an, sie ist unfähig, auch nur den kleinsten Gedanken zu fassen; ihr warmes Bett scheint ihr der einzig sichere Ort.
«Im Namen Gottes!», kreischt Dahabo. «Wann wirst du dich ändern? Wann schüttelst du endlich deinen verdammten Stolz ab, deine Eitelkeit, deine
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