Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
erlitten, dass sich seine Wand verhärtet hat, die es wie Verbandsmull vor weiteren Verletzungen schützt. Wenn ihr Ende naht, wird das Herz ihr stärkstes Organ sein und versuchen, den Rest mitzuschleppen wie ein Maultier seine Last. Sie wünscht, sie könnte ihm einen Zuckerwürfel geben und sagen: «Gut gemacht, du hast mir brav gedient, aber jetzt ist es an der Zeit für den wohlverdienten Ruhestand.»
Im Zustand zwischen Wachen und Schlafen sieht Kawsar sich, wie sie den Riegel der Holztür zurückschiebt, die von ihrer asketischen Küche in den ummauerten Garten führt. Die Schrauben im oberen Scharnier haben sich gelockert, und Kawsar muss die Tür an der Klinke leichtanheben, damit sie aufgeht. Sie hört ein Seufzen, ob es von ihr oder dem Garten kommt, vermag sie nicht zu sagen. Hinter der Tür erwartet sie Eden: die Bäume, Pflanzen und Früchte ihrer Arbeit, ein kleines Grundstück, über das sie gütig geherrscht hat. Zweige reichen von einer bröckelnden Lehmmauer zur anderen, bilden ein Blätternetz, das Sonnenschein und Mondlicht filtert.
Sie holt tief Luft und atmet den Duft ein, den diese ihre Kinder verströmen, die sie ins Leben geträumt hat: Tamarinde, Guave, Granatapfel, Bougainvillea und Jasmin. Wenn sich schon ihr Viertel mit seinen alten Bungalows und breiten Straßen aus feinem Goldsand vom restlichen Hargeisa unterscheidet, dann gibt es wohl nirgendwo auf der Welt einen Garten wie ihren – ein Ort, an dem die Zeit anders tickt; hier wird sie in ihre Jugend zurückkatapultiert, statt sich ihrem Ende entgegenzuschleppen. Nichts innerhalb dieser Mauern deutet darauf hin, dass sie kein junges Mädchen mehr ist, das draußen an der frischen Luft die Zeit verbringt, bis die Mutter voll beladen zurückkehrt und die Tageseinkäufe auf den Küchenboden plumpsen lässt. Hier sind ihre Gelenke geschmeidig, ihr Rücken ist gerade, ihre Gedanken sind klar und weit wie der Horizont. Sie wird Anweisungen hinterlassen, dass sie unter dieser mit Glimmer durchsetzten Erde begraben werden will, wo sie gewiss sein kann, weiterhin den Regen auf ihren Knochen zu spüren, warm und dick wie Blut. In Gedanken stolpert sie vorwärts auf der Suche nach dem geeigneten Ort für ihr Grab. Ein stilles, unauffälliges Plätzchen, damit das Grab nicht den Blick auf den Garten versperrt.
Sie kriecht in die linke hintere Ecke, wo der Tamarindenbaum steht, wie eine Frau, die ihr Haar im Wind wehen lässt, von den oberen Ästen baumeln Webervogelnester, die Tamarinde bietet Schatten und Vogelgesang. Unter dem Baum ist eine unregelmäßig mit wildem Gras bewachsene Stelle, und sie zupft an dem vertrockneten Gelb herum, sie möchte nichts derart Unordentliches auf ihrem Grab haben. Zwischen Tamarindenbaum und Mauer streckt sie sich prüfend aus, die Länge ist perfekt, wie ein guter Schuh mit ein bisschen Spielraum um die Zehen. Das Erdreich unter ihr ist geschäftig, dort wimmelt das Insektenleben, ganze Städte, ganze Völker pflanzen sich fort, atmen, sterben in zeitloserPanik. Was werden sie denken, wenn sie in ihre Welt einfällt? Werden sie Kawsar für einen schweren, stummen, dunklen Eindringling halten? Oder für Manna, das eine wohlwollende, anonyme Macht herabregnen lässt? Viel wahrscheinlicher wird überhaupt nicht gedacht, sondern zu Augen, Zunge und den anderen saftigen Stellen gedrängt, bevor dies ein anderer tut. Bei der Vorstellung an kleine Münder, die an ihr knabbern und saugen, und dass ihre alten Überreste seltsame Körper nähren, kribbelt Kawsars Haut.
«Sollen sie doch kommen. Sollen sie doch alle kommen», murmelt sie.
Sie wacht auf, als der Himmel immer noch rosa und sternenübersät ist, und betet, dass Dahabo die Hauptstadt heil erreicht und beim Besteigen des Flugzeugs nach Dschidda keine Angst hat. Keine von ihnen ist je geflogen, und es wirkt unpassend und lächerlich, sich in diesem Alter in die Lüfte zu schwingen. Kawsar legt sich aufs Kopfkissen zurück und bemerkt, dass das Bett unter ihr leicht vibriert; zuerst genießt sie das Gefühl, hält es für den Auswuchs ihrer Phantasie, dann wird das Schaukeln heftiger, presst ihre Knochen gegen das Bettgestell. Die Bungalowmauern scheinen zu ächzen, dann erbeben sie, bringen das Blechdach zum Scheppern, und die gerahmten Stoffe fallen von der Wand.
«Was ist denn los, Nurto? Ist das ein Erdbeben?»
Nurto will von der Matratze aufspringen, aber ihre Beine verheddern sich in den Betttüchern; sie reißt die Decken weg und wirft sie auf
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