Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
den Boden. In Sekundenschnelle steht sie am Vorderfenster.
«Panzer. Die Straße ist voll mit Panzern und Soldaten.»
«Allah, es fängt an. Sie werden uns alle ausradieren.»
Die Panzertürme justieren sich, surren wie Riesenzikaden, ehe sie einrasten. Dann hören sie die ersten entfernten Schüsse des Krieges, ein schwaches Ping wie Popcorn, das aus der Pfanne hüpft, gefolgt von Schreien und Wehklagen.
Nurto duckt sich unter das Fenster. «Sie sind in Maryams Haus rein.»
Kawsar holt tief Luft, will etwas Beruhigendes zu Nurto sagen, aberihr Verstand setzt aus. Panik verbrennt die sich gerade formenden Gedanken.
Langsam schiebt Nurto den Kopf zur Fensterecke hoch. «Sie haben Maryam auf die Straße gezerrt.»
Während die Minuten dahinschleichen, beobachtet Kawsar das Mädchen; Nurto scheint gelähmt, steht vollständig still, nur ein paar feine Haarsträhnen bewegen sich im Luftzug.
Gewehrfeuer rattert los, und Nurto dreht sich um und fällt in sich zusammen, die Knie an die Brust gedrückt, den Kopf in den Armen geborgen. Die Soldaten sprechen rasend schnell in einem Dialekt, den Kawsar kaum versteht. Sie klingen verwirrt, überwältigt von dem Ausmaß ihres Tuns. Kawsar bekommt ein paar Satzfetzen mit. «Wann kommen die Maschinenpistolen?» – «Welches Haus als nächstes, Hassan?»
«Sie ist tot. Ich muss rauskriegen, ob es
Hooyo
und meinen Geschwistern gut geht.» Nurto steht auf, weicht Kawsars Blick aus, glättet langsam ihre Leintücher und faltet Decken.
«Bring mir bitte einen Krug Wasser, eine Tasse, die Schmerztabletten, die restlichen
canjeero
und das Radio», sagt Kawsar, die plötzlich von einer Welle der Ruhe überspült wird.
Nurto schiebt den Tisch näher an Kawsars Bett heran und ordnet die Gegenstände darauf. Vorsichtig trägt sie den Plastikkrug aus der Küche, den sie so gefüllt hat, dass er beinahe überfließt.
«Arme Maryam.»
Nurto schüttelt den Kopf, gibt aber keine Antwort.
«Nimm.» Kawsar holt eine Rolle Geldscheine unter ihrem Kopfkissen hervor.
Nurto küsst Kawsars Handrücken, als sie das Geld nimmt. Ihre Augen sind tränenlos. Sie klemmt einen Stuhl unter die Klinke der Eingangstür, nimmt ihre mit Kleidern und Kosmetika vollgestopfte Stofftasche und verlässt das Haus durch die Hintertür in der Küche. Kawsar weiß, dass Nurto mutig genug ist, um über die hohe Gartenmauer zu klettern. Bedauerlicherweise hat Kawsar sie mit Glasscherben gegen Diebe bewehrt. Nurto wird, blutend oder nicht, durch das Gebüschkriechen und über die Höfe entlang des Grabens huschen müssen, bis sie die Hütte ihrer Familie im Norden Hargeisas erreicht.
Die Panzer feuern los, jede Detonation wird von einer Hitzewelle begleitet. Kawsar steckt sich die Finger in die Ohren, aber das Donnern bohrt sich durch ihren Kopf. Durch die Fenster weht eine Staubwolke herein und bedeckt alles mit einer Schicht aus Gips und Sand. Kawsar legt die Hand über den Krug, aber das Wasser wird trotzdem verschmutzt.
In eine weiße Rauchwolke gehüllt, feuern sich die Panzer ihren Weg durch die Straße. Kawsar stützt sich auf den Ellbogen und sieht zum Fenster zu ihrer Rechten hinaus. Ihre Nachbarn fliehen in einem Nebel aus Zementstaub, aber die bunten Sandalen und Kleider verraten sie, und die Soldaten lassen sich auf die Knie fallen und schießen auf die geisterhaften Gestalten. Über ihr ächzt ein Flugzeugmotor, und vom Flughafen sieht sie eine MiG herabgleiten, auf beiden Tragflächen die somalische Flagge. Kawsar spürt, wie sich die Luft um sie ballt und ihr den Atem raubt, während Geschosse die Blechdächer im Viertel herunterfetzen.
Sie sinkt aufs Bett zurück und zieht sich eine Decke über den Kopf, hat Angst, dass in den nächsten Sekunden eine Bombe durchs Dach kracht. Beide, sie und das Viertel Guryo Samo, haben das Ende ihrer Zeit erreicht; die Soldaten werden die Straße in eine Wüste zurückverwandeln, die Sterne ausknipsen, die Hunde erschießen und die Sonne in einem Brunnen löschen.
Filsan
F ilsan verbringt ihre Tage in Hargeisa, aber in den Nächten vermisst sie ihre Stadt so sehr, dass sie mit dem würzigen Meergeruch im Haar erwacht. Schönes Mogadischu – deine Moscheen mit den weißen Turbanen, Körbe voller Anchovis, hell wie Quecksilber, Jazz und schlurfende Füße, feinknochige Dienstmädchen mit sanftem Lächeln, das blendende Weiß deiner Häuser vor dem Saphirblau des Meeres –, du wirst vermisst, scheinen ihre Träume ihr zuzuflüstern. Wie Kletten hängen die
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