Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Erinnerungen an ihr. Sie kommt sich wie eine Verbannte vor und versteht nicht, was sie hier noch hält: Ehrgeiz, der Wunsch nach Veränderung, das Bedürfnis, ihrem Vater zu entfliehen – reicht das denn, sie von ihrer Stadt fernzuhalten?
Sie ist allein, ungeliebt, vergessen. Ihre Hand liegt auf ihrem Bauch, als Filsan die Augen aufschlägt, und sie stellt sich vor, die Hand gehöre jemand anders. Es ist zwecklos, Unterarme, Beine oder den Intimbereich zu rasieren, denn die bekommt ohnehin niemand zu sehen; nur ihre eigenen Fingerspitzen streichen über ihre Schenkel. Früher einmal hatten Männer nach ihr gefragt und Filsans Vater ihre Absichten erklärt, aber er hatte sich über sie lustig gemacht, und sie hatte für deren Balzerei und die Schmeicheleien nichts als Verachtung übrig gehabt; sie hatten kein Interesse an ihr als Person, wussten nichts von ihr, nur dass sie seine Tochter war. Sie wollte jemanden, der ihn nicht um Erlaubnis fragen, sondern ihn auf den alten, unbedeutenden Mann zurechtstutzen würde, der er war, der sie einfach entführen würde, aber allmählich war es unwahrscheinlich geworden, dass sie noch irgendjemand bei Nacht und Nebel entführen wollte; so etwas passierte siebzehnjährigen Mädchen, keinen Frauen, deren Stirnfalten immer tiefer wurden.
Filsan steht auf und nimmt ihre Uniform vom Haken an der Tür; der Wecker klingelt erst in zehn Minuten, aber sie will nicht mit ihrenGedanken allein sein und gleichzeitig über alles und nichts grübeln. Sie streift sich den Uniformrock über den Kopf und steigt in die Hose. Ein schneller Abstecher ins Bad, und dann steht sie in der Gemeinschaftsküche vor dem Herd, die Wand dahinter ist rußgeschwärzt, in der Luft hängt immer noch der Geruch nach Fleisch und
Ghee
vom vorigen Abend. In ihrem Stieltopf kocht das Wasser, auf der Oberfläche zittern Teeblätter, Kardamomkapseln und Gewürznelken, kurz vorm Überkochen packt sie den Griff und gießt gerade so viel ein, dass ihr Emailbecher voll ist. Sie kippt drei Löffel Zucker hinein, spült und trocknet den Topf ab, ehe sie ihn in ihrem Schrank einschließt. Sie ist von Natur aus misstrauisch, aber mittlerweile bringt sie in der Kaserne ihre Habseligkeiten geradezu zwanghaft in Sicherheit; die anderen Frauen schämen sich nicht, Unterwäsche von der Leine, Geschirr aus der Küche und Seife vom Waschbecken zu stehlen. Filsans Rationen werden nicht nur ein Raub der Ratten im Vorratsraum, sondern auch der Kameradinnen, die Reissäcke aufschneiden und Ölfässer anzapfen. Gern würde Filsan die Schuldigen melden, aber die verstecken sich hinter einer Kultur der Bestechlichkeit; auf den örtlichen Polizeiwachen erlaubt man reichen Gefangenen, eine Zelle zu «mieten», sie bezahlen die Wachen, damit sie ihre Tage draußen verbringen können, und kehren nur nachts für ein Nickerchen zurück. Ihr Land und die Revolution sind ihnen egal, es geht einfach darum, was sie für sich herausholen können.
Sie trinkt ihren Tee, er verbrennt ihr die Kehle auf eine Weise, die sie angenehm findet. Das ist ihr ganzes Frühstück. Man hat ihr nie das Kochen beigebracht; ihrem Vater war es wichtig, dass sie sich auf das Lernen konzentrierte, die Hausarbeit wurde den Dienstmädchen überlassen, aber jetzt wünscht sie sich, sie könnte sich schnell etwas zubereiten, statt irgendwo etwas kaufen zu müssen. Filsan sieht sich in der dunklen Küche um, hört ihren Magen gluckern und kommt sich eher wie eine Vollwaise, nicht wie eine Halbwaise vor. Zu Hause hätte Intisaar die Wachstuchdecke mit den gelben Blümchen aufgelegt, eine Thermoskanne Schwarztee auf den Esstisch gestellt, einen Krug Orangensaft, einen Obstsalat mit Mango, Papaya und Bananen unter einerFliegenhaube, einen Teller
laxoox
, frittiertes Brot, und wenn ihr Vater am Vorabend darum gebeten hätte, auch Rührei und Lammnieren.
Die anderen Frauen – in der Kaserne wohnen insgesamt fast fünfzig – trudeln in der Küche ein; Filsan hält ihre leere Tasse in der Hand und starrt aus dem Fenster auf einen leeren Hof. Vorn ziehen sich kreuz und quer die Wäscheleinen von Stange zu Stange, im Hintergrund ragen die beiden Kuppeln der Hauptmoschee auf. Unterhalb des Fensters bilden Gasbetonsteine, die vom Bau eines beinahe fertiggestellten und vom Militär requirierten Hotels übrig geblieben sind, eine Art Kaserne für gurrende Tauben. Filsan und ihre Kameradinnen ignorieren einander, aber was würde sie zu ihnen sagen, wenn sie mit ihnen reden könnte?
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