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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Lastwagen,
jaalle
, wir sichern die Gegend», befiehlt Lieutenant Afrah.
    Filsan starrt angestrengt auf ihre Stiefel, die weit entfernt zu sein scheinen. «Aber ich kann mich nicht bewegen.»
    Afrah schnippt mit den Fingern, und ein Rekrut, kaum älter als fünfzehn, tritt neben ihn. «Begleite sie zum Lastwagen zurück.»
    Sanft umfasst der Rekrut ihren Ellbogen, wie er es bei seiner Großmutter täte, und führt Filsan, die über die aufgerissene Erde voranstolpert.
    «Sie haben sich wacker geschlagen,
jaalle»
, flüstert er ihr immer wieder ins Ohr, während sie den knappen Kilometer zu den Fahrzeugen zurücklegen.
    «Aber was ist passiert? Wer hat sie getötet?», fragt sie leise.
    Im dunklen Kokon ihrer Stube schießen Filsan immer wieder Bilder vom Tage durch den Kopf: drei Leichen, die mit ihr nach Hargeisa zurückfahren, die Überreste der Fliegen, die der Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe verschmiert, Geier, die im Gegenlicht der Mittagssonne nebeneinanderhocken, zurück in Birjeeh die hastige, verlogene Meldung an Major Adow, die Soldaten um sie herum in der Kantine, die beschreiben, wie sie selbst auch Rebellen erschossen haben, das Tack-Tack-Tack der Schreibmaschine, als sie den Bericht über den Einsatz in Salahley verfasst.
    Um vier Uhr morgens schrillt wütend der Wecker, übertönt das sanfte Rauschen des Regens draußen im Hof. Mit einem Schlag bringt Filsan den Apparat zum Schweigen und rollt sich zusammen, genießt die Wärme des schmalen Betts.
    Beinahe noch im Halbschlaf registriert sie unter den verschränkten Armen das Pochen ihres Herzens, es schlägt dumpf, als wäre sie vor etwas oder jemandem auf der Flucht, und doch ist sie in Sicherheit, in der Geborgenheit ihrer Stube. Unruhig steht sie auf und wäscht sich im Gemeinschaftswaschraum; das kalte Wasser zieht die Haut über ihren Brüsten zusammen, und auf ihren Armen bildet sich Gänsehaut.
    Im Waschraum riecht es grauenvoll, ein kleines Fenster genügt nicht, damit die Wände trocknen oder der Gestank der verstopften Toiletten abziehen kann; hinter der Tür sammeln sich verbogene Haarnadeln, Kämme, denen Zinken fehlen, rostige Rasierklingen, verdreckteUnterwäsche. Mädchen, denen von klein auf beigebracht worden ist, ihr Heim sauber zu halten, rebellieren und werden zu Schmutzfinken, soll doch jemand anders ihre Sauerei beseitigen, wohingegen die verwöhnte Filsan von dreckigen Böden und überlaufenden Waschbecken geradezu besessen ist. Es ist sinnlos, die faule Rekrutin zu melden, die zum Putzdienst abgestellt worden ist, da niemandem das Frauenquartier wichtig genug ist, um Disziplinarmaßnahmen gegen sie zu ergreifen. Filsan quetscht einen winzigen Klecks aus der importierten Shampoo-Flasche, die sie in Mogadischu gekauft hat, und massiert mit den Fingernägeln kräftig ihre Kopfhaut.
    Die in ihrem Kopf kreisenden Gedanken wollen sich nicht zu etwas Sinnvollem zusammensetzen, und sie massiert immer fester, will ergründen, weshalb es hinter ihren Rippen so ausdauernd hämmert. Filsan bückt sich, um das Haar unter dem Wasserhahn auszuspülen, und muss weinen, unaufhaltsam fließen Tränen, die ihr in den Augen brennen. Die zuvor konfus schwirrenden Gedanken verbinden sich nun und schreiben mit leuchtenden Buchstaben U-n-g-e-h-e-u-e-r auf das Dunkel in ihrem Kopf. Die Buchstaben tanzen und narren sie. Sie ist in jeder Hinsicht ein Ungeheuer, und das Gewicht dieser Erkenntnis macht ihre Knie weich und lässt sie den Kopf senken; in Gebetshaltung legt Filsan die Wange auf den schmierigen Boden und lässt das Wasser über sich strömen.
    Allmählich beruhigt sich ihr Herzschlag wieder, die Buchstaben verblassen, sie hört Schritte im Korridor, es wird an eine Tür geklopft. Filsan stemmt sich hoch, dreht den Hahn zu und wickelt sich in ein Handtuch, schnappt sich Nachthemd und Shampoo und huscht auf ihre Stube zurück. Im Korridor muss sie sich an einem Mädchen vorbeidrücken, das seinem Liebsten im Hof zuwinkt und Kusshände zuwirft. Filsan wirft einen raschen Blick durchs Fenster und sieht, wie der Mann sich das Hemd in die Hose stopft und zurückwinkt. Ihr modern eingestellter Vater hat es ihr erspart, aber wahrscheinlich ist dieses Mädchen beschnitten wie alle anderen auch, und trotzdem halten sie sich Liebhaber, als wäre dies ihr gutes Recht. Nur Filsan befolgt die Regeln, hat Angst, sie zu übertreten – niemand hat ihr beigebracht, dass Stehlen,Vögeln und Töten in Ordnung ist, solange man Stillschweigen darüber

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