Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Fest war bereits in vollem Gange: Männer jonglierten mit roten und grünenPaprikas, wollene Löwenmähnen ums Gesicht gebunden; Trommler bearbeiteten mit Ziegenleder bespannte Trommeln, schnitten mit zuckendem Kopf der Menge aus Halbwüchsigen und Studenten merkwürdige Grimassen; Mädchen in traditionellen rot karierten Umschlagtüchern wiegten sich sanft in den Hüften und trällerten Revolutionslieder. Im Gewühl waren ihre Cousinen und die anderen Jungen abhandengekommen, und sie griff nach Abdurahmans Arm, ehe auch er noch verschwand, packte dann ein Stück Hemd zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sich daran fest. Über ihren Köpfen hingen weitere Banner, die in krakeliger blauer Farbe «Tod dem Stammessystem» verkündeten, «Genossen, nicht Feinde» und «Aufbruch».
Ein bärtiges Parteimitglied mit Megafon legte in einfachen Worten die neue Philosophie dar: Fragt nicht, welchem Clan jemand angehört, behauptet nicht, ein Stamm sei anderen überlegen, verschafft euren Verwandten keine Vorteile. Er predigte den längst Bekehrten; weder hatten die Jungen die Mädchen nach ihrem Clan gefragt, noch wäre es den Mädchen eingefallen, sich um den der Jungen zu scheren, das war etwas für alte Knacker und Versager. Die Musik erstarb bis auf einen Trommelwirbel, und in dem Moment, in dem Filsan die Mitte des Getümmels erreichte, wurde eine aus Stofffetzen zusammengebastelte, mit Gras ausgestopfte Puppe, versehen mit dem Schild «Stammessystem», an einem Ast hochgezogen, eine echte Schlinge um den fransigen Hals.
«Verbrennt sie! Verbrennt sie! Verbrennt sie!», skandierte das Publikum.
Während die Aktivisten noch zauderten, reckte sich aus der Menge ein langer Arm und hielt ein Feuerzeug an den Fuß der Puppe. Sie ging in Flammen auf und ließ brennendes Konfetti auf die Köpfe regnen.
Filsan kreischte und duckte sich, als die weißglühenden Flocken auf ihrer bloßen Haut landeten. Abdurahman legte ihr den Arm um die Schulter und rannte mit ihr zum Eingang zurück, presste sie im Gewimmel eng an sich. Rahma und Idil rannten lachend vorbei. Filsan griff wie ein Fischer in den Menschenstrom und erwischte Idils Handgelenk.
«Ey, dieses Land ist echt verrückt!»
«Chaotisch
meinst du», berichtigt Rahma.
«Wie könnt ihr Leute bloß so leben?»
«Es ist auch dein Land.» Filsan wechselte einen wissenden Blick mit Abdurahman. Ständig machten die Mädchen irgendwas herunter: «Guck mal diesen grääässlichen Mann da, isst mit den Händen, grääässlich»; «Sieh mal, dieses grääässliche Brot da auf der Theke»; «Erwartest du etwa, dass ich mich auf dieses grääässliche Loch da setze?» Alles war dermaßen «grääässlich» und manchmal auch dermaßen
najaas
, wenn ihnen nach Somalisch war. Das blumige Schriftenglisch, das Filsan in der Schule gelernt hatte, wurde bei ihnen zu einer Sprache, die offensichtlich nur für kritische Äußerungen gedacht war.
«He! Sharmarke, Farhan, Zakariya, wir sind da!», rief Abdurahman seinen Freunden zu.
Alle sieben gingen zur Straße zurück. Es war bereits vier Uhr nachmittags, und Filsan wollte nach Hause, nach Casa Popolare, die Beine hochlegen und vor dem Abendessen einen von Rahmas albernen Liebesromanen lesen.
«Wir können jetzt doch noch nicht zurück», jammerte Idil. «Jeden Scheißabend hocken wir zu Hause rum. Mir ist langweilig, Filsan, dermaßen langweilig!»
«Wir müssen zu Hause sein, bevor es dunkel wird», entgegnete Filsan leise.
«Sie kommen immer erst spät nach Hause, und es dauert noch
zwei Stunden,
bis es dunkel wird», fauchte sie.
«Wie du willst.» Resigniert hob Filsan die Hände.
«Lasst uns ins Kino gehen, in der Nähe von Ceel Gaab gibt es eins, wir können uns einen Film ansehen und euch dann nach Hause bringen, bevor es dunkel wird.» Abdurahman scheuchte sie vor sich her und verdrehte hinter Rahmas und Idils Rücken die Augen.
Sie gingen die Via Makka Al-Mukarama Richtung Ceel Gaab entlang, bedeckten ihre Nasen vor den dunklen Abgaswolken beim Busbahnhof, überquerten den alten italienischen Platz und blieben einen Augenblick stehen, als sie an einer Funkband vorbeikamen – Bassgitarre,Leadgitarre, Orgel, Saxophon, Schlagzeug und Sänger –, die in einem zur Straße offenen Lagerraum improvisierte.
«So was
will ich sehen.
Africa gone funky, baby»
, schrie Idil, schnippte mit den Fingern und wackelte mit den Hüften.
«Wir sind also kein ganz hoffnungsloser Fall?», stichelte Abdurahman.
«Nicht alle, nein»,
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