Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
väterlicherseits waren Händler, die mütterlicherseits Hirsebauern und vermehrten gemächlich ihren Landbesitz und ihren Reichtum; ihre Familiengeschichte kann nicht mit Wüstenwanderungen oder Kamelkarawanen aufwarten. Es scheint, als ob diese wilde Gegend den Charakter der Menschen geformt hat oder gleichgesinnte Gemüter angezogen hat, sich dort anzusiedeln. Als der Lastwagen die Grenze zu Äthiopien erreicht, steigt das Land sanft, aber stetig an, die Luft wird frisch und duftet nach den gelben Blüten der Gummiakazie. Ein junger Schäfer versteckt sich vor dem Konvoi hinter einem Dickicht,seine schlanke Gestalt ragt gerade noch so aus dem kümmerlichen Gezweig heraus, seine schwarzköpfigen Schafe grasen weitverstreut im Gelände.
Filsan dreht sich um, als Lieutenant Afrah ihre Aufmerksamkeit einfordert.
«Wir nähern uns unserem Ziel, und ich verlange, dass jeder von Ihnen sich so verhält, wie man Ihnen das in der Ausbildung beigebracht hat. Wir greifen den Feind heute voraussichtlich nicht an, lassen aber stets Umsicht walten, wir durchsuchen schnell die Häuser, und wenn Sie auf Dorfbewohner mit Waffen stoßen, bringen Sie die Übeltäter samt Waffen zu mir. Im letzten Wagen unseres Konvois sitzen die Sprengstoffexperten. Es sollte nicht mehr als eine halbe Stunde dauern, bis die Wasserspeicher zerstört sind. Wir wollen, dass der Einsatz reibungslos und ruhig verläuft. Über Funk stehen wir in ständigem Kontakt mit Birjeeh; alle ungewöhnlichen Vorkommnisse müssen mir sofort gemeldet werden. Überprüfen Sie jetzt noch einmal Ihre Waffen.»
Es ist ein
tuulo
, kaum Dorf zu nennen: ein paar Behausungen, die wie Bienenstöcke aussehen, vor den Eingängen hängen alte Tücher, eine Teebude, deren Kessel auf offenem Feuer stehen, ein einzelnes Steinhaus mit Blechdach, Ziegen und herumstreunenden Kindern; unter einem Baum ist eine freie Fläche für religiöse Unterweisungen und Clanzusammenkünfte. Filsan kommt es vor, als wäre sie in die Vergangenheit versetzt worden, als sähe sie eine Szenerie vor sich, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat.
Bedu
-Frauen spähen aus ihren
aqals
heraus, den Blick auf sie geheftet, vor allem auf ihre Hose – dieses fremde Wesen, dieses weder männliche noch weibliche Kuriosum in ihrer Mitte. In Filsans Augen sind sie mindestens ebenso seltsam: klein, gebeugt, zahnlos wie verhutzelte Kinder.
Man hat die Ältesten zusammengerufen, und Filsan wird sich wieder ihrer Rolle an diesem Ort bewusst. Sie tritt vor, will die drei Männer unterbrechen, die Filsan aber ignorieren und auf ihren Stöcken und krummen Beinen auf einen hinter ihr stehenden Rekruten zuhumpeln.
Sie packt den Mann zu ihrer Rechten am Arm. «
Jaalle
, ich bin diejenige, mit der ihr gefälligst zu reden habt.»
Der Mann ist schmal und drahtig, schüttelt sie aber überraschend kraftvoll ab. Filsan setzt ihm nach, will niemanden um Hilfe bitten; am liebsten würde sie ihn an den langen, grauen Haarbüscheln zurückzerren, die seine Glatze umkränzen, und ihn auf die Knie zwingen. Sie holt ihn ein und drückt ihm den Gewehrlauf ins Kreuz. «Halt!»
Er erstarrt und dreht sich langsam zu ihr um.
Sie zieht die Waffe zurück, hält sie aber fest umklammert, zielt immer noch in seine Richtung.
«Wir wollen mit dem Kommandanten sprechen. Warum seid ihr hier? Was haben wir verbrochen?» Der grüne Star trübt seine Augen, seine Ohren sind groß wie die eines Wüstenfuchses.
«Mein Kommandant hat mich beauftragt, mit euch zu sprechen. Wir sind von der Revolutionsregierung mit uneingeschränkter Handlungsvollmacht ausgestattet. Uns liegen überzeugende Beweise vor, dass ihr das gesetzlich verbotene National Freedom Movement unterstützt, und um weitere Kollaboration zu verhindern, werden die
berkeds
in der Nähe dieser Ansiedlung zerstört.» Filsan spricht schnell, holt nicht einmal Luft. «Ihr dürft weiterhin eure traditionellen Tiefbrunnen benutzen. Einmal im Monat werdet ihr von der Gemeindeverwaltung mit zusätzlichem Wasser versorgt.»
Ein anderer Ältester tritt vor, wedelt mit seinem unbehauenen Stock herum. Er ist breit gebaut, das Haar mit Henna gefärbt, er erwartet, dass sie zurückweicht. Sie aber bleibt stehen. «Diese
berkeds
sind unser persönliches Eigentum, wir haben für das Material bezahlt, die Zisternen selbst gebaut, unterhalten die Brunnen …»
Offenbar hat sich das gesamte Dorf um Filsan versammelt. Die anderen Soldaten sind in den Hütten verschwunden. «Dieses Land
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