Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
zwischen seinen Schneidezähnen ist eine Schönheitslücke zu sehen.
«Nein, ich will nur meine Aufgabe gut machen.»
«Es wird ganz einfach sein, rein und wieder raus, bevor der Motor überhaupt abgekühlt ist. Hier habe ich ein Sturmgewehr für Sie, ein FAL. Der Rückstoß bei dieser Waffe ist nicht so stark, besser für Sie als die Kalaschnikow. Major Adow meinte, Sie seien an der Waffe ausgebildet worden?»
«Beim Frauenhilfskorps, aber das ist einige Zeit her. Ich weiß nicht …»
«Sie werden die Waffe nicht brauchen, sie dient nur zur Abschreckung, falls sich ein paar Unruhestifter im Dorf aufhalten sollten.»
«Ja, Lieutenant.» Filsan nimmt die Waffe entgegen; der Kolben ist relativ kurz, der Lauf hingegen stößt an das Lastwagendach. Sie hält sich das Gewehr quer vor die Brust, streift sich den Riemen über den Rücken; während der Übungen in Mogadischu hat sie das Ziel nie getroffen, aber es fühlt sich gut an, wieder eine Waffe zu halten; ein Gewehr macht selbst aus einer Frau einen Soldaten.
Sie presst sich den kalten Kolben in den Magen und lehnt sich zurück, belauscht das leise Gespräch zwischen zwei Männern des Kommandotrupps direkt hinter ihr. Sie reden über eine Frau, mit der einer der beiden Sex gehabt hat, auf eine Art, die sich anhört, als wäre die Frau ein Tier gewesen, das er gefangen und getötet hat.
Sie rauschen durch den letzten Checkpoint und lassen die dreckige, geduckte Stadt hinter sich, die im Rückspiegel immer kleiner wird und verschwindet. Ein Lichtrand entzündet sich um sie herum, alles wird fleckig und hell wie bei einem überbelichteten Film, der Horizont ist von schiefen Granitpyramiden durchbrochen. Eine derartige Landschaft hat sie erst einmal gesehen, als Vierzehnjährige während der Somalischen Alphabetisierungskampagne auf dem Weg nach Dhusamareb.
«Haddaad taqaan bar, haddaanad aqoon baro
. Wenn du’s kannst, bring’s anderen bei, wenn du’s nicht kannst, lern’s», lautete der Slogan; alle Schulen, Colleges und Universitäten schlossen sieben Monate lang und schickten Studenten und Professoren in die Schlacht gegen den Analphabetismus in jede Stadt, in jedes Dorf und jedes Lager. Die Sprecher von Radio Mogadischu beschrieben den Feldzug höchst dramatisch: Stifte, Bücher, Kreiden und Tafeln waren die Waffen, die Helden einfache Lehrer und Halbwüchsige, die tapfer die Unwissenheit im ganzen Land bekämpften. Filsan war während
Eid
im August 1974 vom Platz des 21. Oktober aufgebrochen. Der Präsident hatte eine großartige Rede gehalten, die sie teilweise immer noch auswendig konnte: «Der Kampf, an dem ihr euch mit euren Fähigkeiten beteiligt, ist ehrenvoller als ein gewöhnlicher Kampf und besitzt mehr Wert, als alles, was ihr kennt.» Er hatte recht; wenn sie in diese Zeit zurückkehren könnte,täte sie es. Sie vermisste das Leben mit der Familie des Schmieds, am Morgen und am Spätnachmittag unterrichten, von den Töchtern Lieder und Tänze lernen, in der Abenddämmerung am Bach sitzen und Milch direkt von der Kuh trinken. Die gesamte Kampagne war mit Spenden finanziert worden, und selbst als Vierzehnjährige wurde sie respektvoll behandelt, weil sie lesen konnte. Sie schrieb die Gedichte der alten Männer in der neuen somalischen Schrift auf, und diese falteten Filsans Kritzeleien zusammen und steckten sie sich wie Talismane in die Kleider. Es war eine Traumzeit – sie waren voller Liebe für das Land und einander; jetzt scheint es nur noch Rebellen, Diebe und Soldaten zu geben, die einander bekämpfen. Wahrscheinlich ist sie die Einzige, die immer noch an dieses alte Somalia glaubt, jenes Somalia, in dem sie aufgewachsen ist.
Die asphaltierte Straße endet abrupt, und der Lastwagen wird langsamer, kämpft sich über die steinige und holprige Piste. Im Süden des Landes gäbe es in so einer Gegend Strauße, Antilopen, gelegentlich einen Löwen oder Leoparden, aber hier besteht die gesamte Tierwelt aus einer Schildkröte, die am Pistenrand herumtrödelt. Die Landschaft ist kahl, hart und öde, hier ist nur Unheil zu erwarten. Es gibt keine Markierungen oder Orientierungspunkte, offensichtlich weiß der Fahrer intuitiv, welche Abzweigung er nehmen muss.
Wie sich die Menschen in dieser trostlosen Gegend wohl in einer mondlosen Nacht zurechtfänden, fragt Filsan, und der Fahrer deutet zum Himmel. «Vielleicht spricht Gott zu ihnen, oder sie kennen immer noch die alten Sternkarten und orientieren sich daran.»
Ihre Vorfahren
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