Der Gast des Kalifen
hatten sie das Amt des Wesirs unter Kontrolle und übten aufalles großen Einfluss aus. Toghtekin wurde zu einem Geist in seinem eigenen Palast; ungesehen und ungehört streifte er durch die Gänge und beklagte seine eigene Torheit. Aber der Schaden war schon angerichtet. Man wurde die Fedai'in einfach nicht mehr los.
Die Menschen versuchten, so gut es ging, damit zurechtzukommen. Es war unglaublich schwer, noch Handel zu treiben. Wenn den Fedai'in beispielsweise die Farbe eines Stoffs nicht gefiel, der zum Verkauf stand, dann bezeichneten sie ihn als unrein, beschlagnahmten ihn und erlegten dem Händler eine hohe Geldbuße auf. Wenn ein Mann auf der Straße stehen blieb, um mit einer Frau zu sprechen, musste er zahlen. Wenn eine Frau hinausging, ohne ihren Kopf zu bedecken, kostete sie das einiges an Gold. Wenn sie einen Turban als zu groß oder einen Bart als zu kurz empfanden -Geld her. Und wenn jemand diese Bußen nicht bezahlen konnte, wurde er ins Verlies geworfen.
Innerhalb kürzester Zeit hatte die Hälfte der Bevölkerung Schulden, die sie nicht bezahlen konnte, und die andere Hälfte saß im Verlies.« Reumütig schüttelte Jordanus den Kopf. »Und war jemand so dumm, seine Unschuld zu beteuern, dann verschwand er einfach. Wenn man Glück hatte, fand man nachher noch den Kopfdes Unglücklichen ans Stadttor genagelt. Meistens jedoch verschwanden die Betreffenden einfach nur spurlos.«
»Ich nehme an, die Christen hatten am meisten unter ihnen zu leiden«, vermutete ich.
»Das sollte man meinen«, erwiderte Jordanus. »Aber nein, die Urheber dieses Chaos waren geradezu peinlich gerecht. Sie behandelten jedermann gleich - Reich und Arm, Jung und Alt, Christen, Juden, Muslime. Jahr für Jahr wurde es schlimmer, und das nicht nur für die Händler und Geldverleiher, sondern für jeden. Guter Handel beruht nicht nur auf einem regen Warenaustausch; er lebt auch vom Fortschritt und von einer gewissen Hoffnung auf die Zukunft. Wenn diese Quellen jedoch austrocknen, verschwindet der Handel so schnell wie ein Fluss in der Wüste.«
Nurmal füllte den Becher und reichte ihn Jordanus. »Wir versuchten, es so lange zu ertragen wie nur irgend möglich«, sagte der alte Händler, leerte den Becher und gab ihn wieder zurück. »Am Ende war das jedoch unmöglich.«
»Habt Ihr Euch dann entschieden fortzugehen?«, fragte ich.
»Wäre es doch nur so gewesen«, murmelte Jordanus, »dann würde Julian noch leben.« Auf seinem Gesicht stand so viel Leid geschrieben, dass ich es nicht länger ertragen konnte und mich rasch abwandte. »Der Stolz des Menschen ist sein Untergang«, sagte er reumütig.
Als er seinen Freund derart bekümmert sah, wechselte Nurmal rasch zu einem weit weniger schmerzvollen Thema, und ich blieb nun mit mehr Fragen zurück als zu Beginn unserer Unterhaltung.
Nachdem die Hitze des Tages sich zwischen den öden Hügeln aufgelöst hatte, machten wir uns wieder auf den Weg. Ich dachte darüber nach, was Jordanus mir erzählt hatte; immer und immer wieder beschäftigte ich mich mit jedem einzelnen Bruchstück der Erzählung. Mir schien, dass Julian und sein trauriges Schicksal im Mittelpunkt des Mysteriums lagen, und da ich Zweifel hatte, ob ich aus dem Vater mehr herausbekommen würde, beschloss ich, die Schwester zu befragen. Doch in jener Nacht bekam ich nicht die Gelegenheit, unter vier Augen mit ihr zu sprechen, ebenso wenig wie am Tag darauf. Die Gelegenheit sollte erst kommen, nachdem wir weit nach Einbruch der Dunkelheit unser Lager aufgeschlagen hatten und alle anderen bereits eingeschlafen waren.
»Sydoni«, sagte ich und trat zu ihr, denn sie war als Einzige noch immer wach und saß am Lagerfeuer. »Ich würde gerne mit Euch sprechen.«
Sie blickte zu mir empor, und die Glut des Feuers tauchte ihr Gesicht in das rosige Licht der Morgendämmerung. »Setzt Euch zu mir«, forderte sie mich mit sanfter, warmer Stimme auf. Ihr langes Haar hatte sie hochgebunden, doch einige Strähnen waren dem Knoten entkommen und schlängelten sich nun um ihre Ohren und den schlanken, wohlgeformten Hals hinunter. Ich fragte mich, was es wohl für ein Gefühl wäre, diese Locken um den Finger zu wickeln.
»Ich habe Euren Vater gebeten, mir zu erzählen, was damals in Damaskus geschehen ist«, sagte ich und ließ mich neben ihr aufden Boden nieder.
»Und hat er es Euch erzählt?« Sie blickte mich mit der gleichen nervenaufreibenden Offenheit an wie bei unserem ersten Treffen im Hof der Villa. Diesmal jedoch
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