Der Gast des Kalifen
»Bete zu deinem Gott, Christ! Bete als Vater, dass du leben mögest, um dein geliebtes Kind noch einmal zu sehen!«
So wurde ich in meine Zelle zurückgebracht, um dort darüber nachzudenken, was geschehen war. Aber je mehr ich über diese merkwürdige Audienz sinnierte, desto seltsamer erschien sie mir. In seiner großen Verzweiflung hatte der Kalif von Ägypten sich ausgerechnet an mich gewandt; er hatte mich um Hilfe wegen seines bösen Sohnes gebeten. In gewisser Weise war ich zum Beichtvater des Kalifen geworden.
Warum, fragte ich mich. Warum hatte er ausgerechnet mich auserwählt?
Er gebot über Armeen, wie er nicht versäumt hatte, mir gegenüber zu erwähnen. Das Wort des Kalifen ist Gesetz... Ich muss der Gerechtigkeit Genüge tun... Warum hatte er mir diese Dinge anvertraut? Mir, einem einfachen Gefangenen in seinem Palast?
Die Gründe des alten Mannes blieben so dunkel wie die Nacht.
Auge um Auge, Zahn um Zahn und Leben um Leben.
Die Gründe, warum der Kalifmich in sein Vertrauen gezogen hatte, mochten mir ja vielleicht verborgen bleiben, doch was er damit bezweckte, das vermutete ich ... und ich fürchtete es. Er verlangte von
mir, das Werkzeug seiner Gerechtigkeit zu sein. Er verlangte von mir, seinen Sohn zu töten.
Großer König und Erlöser, betete ich in Gedanken, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.
Auf Befehl des Atabek wurde ich zu den anderen Gefangenen geschafft, die auf ihre Hinrichtung warteten. Zu erschöpft und entmutigt, um auch nur ihre Köpfe zu heben, saßen sie auf dem Boden und hatten den Blick gesenkt. Ihre Gesichter waren aschfahl von Müdigkeit und ihre Herzen von Schrecken erfüllt.
Jene, deren Verstand noch wach genug war, um die Lage zu erkennen, beteten laut. Ihre Stimmen vereinten sich zu einem tiefen Murmeln, über das sich das Stöhnen und Jammern der Verwundeten wie ein Leichentuch legte.
Meine türkischen Peiniger banden mich los und stießen mich auf den Boden neben die anderen. Der Mann neben mir hob den Kopf, als ich an seine Seite sank. Er betrachtete mich mit trüben Augen. Die Flecken auf seinem zerschundenen Gesicht verwandelten sich bereits von Blau in Schwarz. Er hatte sich das Kinn aufgeschlagen, und Blut rann in dicken Tropfen seinen Hals hinunter. »Bist du ein Priester?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Nein«, antwortete ich. Er erwiderte nichts darauf, sondern senkte nur den Kopf noch tiefer. Und dann wurde mir bewusst, was er mit dieser Frage bezweckt hatte. Kein Mann, der die kalte Hand des Todes auf seiner Schulter spürt, will ohne göttliche Vergebung sterben. »Aber ich werde für dich beten, wenn du willst«, bot ich ihm an.
Er nickte, faltete die Hände unterm Kinn, kniete sich vor mich und begann zu beten. Es war ein schlichtes Gebet, doch gut gesprochen, und am Ende flehte er unseren Himmlischen Vater um Vergebung für seine vielen Sünden an und bat ihn, sich seiner Mutter und seines Weibes zu erinnern und sie nicht in Armut zu stürzen, nun, da er von ihnen gegangen war und nicht mehr für sie sor-
gen konnte.
Nachdem er geendet hatte, betete ich, dass Christus, unser aller Erlöser, dieses Gebet vor den Himmlischen Thron tragen möge, und. »Wie lautet dein Name?« Der Mann öffnete die Augen und blickte mich an. »Dein Name, Freund. Wie lautet er?«
»Gerhardus.«
».trage dieses Gebet vor den Himmlischen Thron und bitte darum, dass Gerhardus' letzter Wunsch erhört werden möge.« Dann sprach ich das Amen und segnete ihn mit dem Zeichen des Kreuzes, wie ich es häufig bei Emlyn und Padraig gesehen hatte.
Der Soldat wischte sich über die Augen, dankte mir und senkte den Kopf, um sich auf den Tod vorzubereiten, nachdem er nun seinen Frieden mit unserem Schöpfer gemacht hatte.
Plötzlich herrschte große Unruhe aufdem Feld. Ich blickte in die Richtung, aus der der Lärm kam, und sah einen Reiter aufuns zugaloppieren, gefolgt von einem Dutzend anderen. Als sie Emir Gha-zi aufseinem prächtigen weißen Ross erreichten, hielten sie an und tauschten ein paar Worte mit ihm aus. Der Emir rief seinen Männern einen Befehl zu, die gerade dabei waren, einen weiteren schreienden Kreuzfahrer auf die Ebene hinauszuzerren.
Dann brüllte einer der Neuankömmlinge etwas - ein kleiner, dunkelhäutiger Türke mit struppigem weißem Bart und einem Gesicht so platt und verschrammt wie eine Stiefelsohle -, wendete sein Pferd und ritt zu uns, die wir auf unsere Hinrichtung warteten. Der Türke trug keinerlei Waffen, abgesehen von einem
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