Der Gast: Roman
Winkel wurde Neal gegen die Rückenlehne gedrückt. Vor ihm schienen die Schienen endlos weiter nach oben zu führen.
»Das gefääällt mir nicht«, kreischte Sue.
»Der Spaß hat noch gar nicht angefangen«, sagte Neal. »Wart’s ab, bis wir erst oben sind.«
»Ich habe Angst!«
»Das sollst du auch.«
Als sie sich dem höchsten Punkt näherten, stöhnte Sue: »O Gott, o Gott, o Gott.«
Sie erreichten die Kuppe.
Neal konnte die Schienen vor ihnen nicht sehen. Alles, was er sah, waren die Berge in der Ferne.
»Los geht’s!«, rief er.
»Scheiße!«, kreischte Sue.
Sie klammerten sich beide an den Sicherungsbügel, um sich für den Fall zu rüsten.
Doch er kam nicht.
Der Wagen blieb ruckartig stehen.
Sie fuhren nirgendwo hin.
32
32
»Puh«, sagte Neal. Ihm war übel. Er saß steif in seinem Sitz und rechnete fast damit, dass auf den merkwürdigen Halt auf dem Gipfel des ersten und höchsten Anstiegs der Bahn eine weitere Überraschung folgen würde: Vielleicht würde die ganze Konstruktion einfach einstürzen.
Sue sah ihn an und fletschte die Zähne. »Das ist nicht normal, oder?«
»Ich fürchte nicht.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ein Defekt?«, vermutete Neal.
»O Mann.«
»Ich bin sicher, dass sie es in ein paar Minuten repariert haben.«
Es sei denn, es bricht gerade alles zusammen …
»Haben die Lichter da vorhin nicht geleuchtet?« Sue nickte zu dem niedrigen Holzgeländer ein Stück links der Schienen.
Eine Lichterkette mit bunten Lampen war dort herumgewickelt.
Die Glühbirnen brannten nicht mehr.
Auch die Lichter am Geländer zu ihrer rechten Seite waren erloschen.
Genau wie die zigtausend Lampen, die das Riesenrad am anderen Ende des Parks schmückten.
Neal konnte in der Ferne die oberen Stockwerke des Apache Inn sehen. Alle Fenster waren dunkel.
Ohne den Sicherungsbügel loszulassen, beugte er sich nach links und blickte hinunter. Der Park unter ihnen, der zuvor so bunt beleuchtet gewesen war, war in die Dämmerung des späten Abends gehüllt. Er sah Leute umhereilen. Und Gruppen, die reglos dastanden, die Köpfe in den Nacken gelegt, und zu den festsitzenden Wagen der Achterbahn hinaufstarrten.
Die meisten Kirmesgeräusche waren verstummt.
Er hörte erschrockene Stimmen, ein paar ferne Schüsse und Schreie, Vogelgezwitscher …
Er sah Sue an. »Es muss ein Stromausfall sein.«
»O Mann. Wie kann so was passieren?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ein Unfall irgendwo in einem Kraftwerk?«
»Was sollen wir machen?«
»Warten, glaub ich.« Neal entdeckte einen hölzernen Laufsteg neben den Gleisen. Er hatte ein sechzig Zentimeter hohes Geländer, hinter dem es schwindelerregend in die Tiefe ging. Vor ihnen, wo die Schienen steil abfielen, ging der Steg offenbar in eine Treppe über.
Mein Gott, was muss das für eine Treppe sein!
Neal hatte gehört, es sei in Freizeitparks üblich, dass jemand vor der ersten Fahrt des Tages die Schienen der Achterbahn entlanglief. Um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war.
Wie verrückt muss man sein, um da entlangzugehen?
So ein schmaler Steg. So steile Steigungen. Nichts, wo man sich richtig festhalten konnte. So ein tiefer Fall …
Schon bei dem Anblick wurde Neal schwindelig.
Die Vorstellung, diesen Steg als Fluchtweg zu benutzen, war entsetzlich.
Vielleicht als letzte Hoffnung.
Ich bleibe hier und verhungere in meinem Sitz, falls es so weit kommen sollte.
»Wir sind verdammt weit oben«, sagte Sue.
Ihre Stimme bebte.
»Alles in Ordnung«, sagte Neal. Er löste seine rechte Hand von dem Sicherungsbügel, legte den Arm um Sues Schultern und zog sie an sich. Sie zitterte. »Das wird schon wieder.« Er streichelte ihren Oberarm.
Sie rutschte tiefer und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.
»Wenn du glaubst, uns hätte es übel erwischt«, sagte er, »wie würde es dir dann in einem der Wagen hinter uns gefallen? Wir haben es wenigsten bis nach oben geschafft.«
»Sind sie noch da?«
Neal drehte sich, so weit es der Sicherungsbügel erlaubte, zu Sue und blickte über seine rechte Schulter. Der zweite Wagen hatte den Höhepunkt der Steigung nicht erreicht. Er konnte ihn nicht sehen.
»Hallo, da hinten!«, rief er.
»Hallo«, antwortete eine Stimme. Sie schien einer älteren Frau zu gehören und klang belustigt.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Neal.
»Bis jetzt, ja. Und bei Ihnen?«
»Es geht.«
»Man hat einen schönen Blick in den Himmel«, rief jemand, der vermutlich neben der Frau saß –
Weitere Kostenlose Bücher