Der Gast: Roman
eine Pause einlegten, ehe sie in die Wildnis zurückkehrten, Lehrer, ältere Hippies und rüstige Rentner. Es gab junge Ehepaare, Babys in Kinderwagen oder Tragegestellen und Kinder, die kreischend durch die Gegend liefen. Gruppen von pubertierenden Jungs versuchten, einen coolen und harten Eindruck zu machen. Jugendliche Mädchen kauten Kaugummi, feixten und flüsterten und kicherten mit ihren Freundinnen. Und junge Pärchen schlenderten händchenhaltend umher und warfen sich gegenseitig begeisterte Blicke zu.
Keine Gangstertypen in Sicht, bemerkte Neal.
Er sah Cowboyhüte, enge Jeans und Stiefel. Keine weiten Hosen, die auf halbmast hingen, keine überdimensionierten Hemden oder Mäntel, unter denen man 9-mm-Halbautomatiks, abgesägte Schrotflinten oder Uzis verbergen konnte.
»Tja, das ist hier anders wie in L. A.«, murmelte Neal.
»Anders als«, belehrte Sue ihn. »Und ich war noch nie in L. A. Aber du nimmst mich morgen mit dahin, oder?«
Er lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht will ich auch einfach hierbleiben, wo es schön und sicher ist.«
»Meinst du, der Pony-Express ist sicher?«
»Da habe ich so meine Zweifel.«
Das riesige weiße Gerüst der Achterbahn ragte am Ende des Mittelgangs über all die anderen Karussells und Attraktionen hinaus. Es sah aus wie eine von einem Verrückten erbaute Eisenbahnbrücke, deren Gleise sich in den dunklen Himmel erhoben, ehe sie steil wie eine Klippe wieder nach unten stürzten, sich in einer Haarnadelkurve wanden und wieder anstiegen.
Alles mit Lichtgirlanden geschmückt wie ein Weihnachtsbaum.
Während Neal zu der Anlage in der Ferne blickte, erklomm ein Zug mit einem halben Dutzend Wagen den höchsten Punkt und stürzte in die Tiefe. Er sah viele Fahrgäste ihre Arme in die Luft reißen, als würden sie sich ergeben. Er hörte leise die Schreie der Angst und des Vergnügens.
»Wahnsinn«, sagte er.
»Willst du immer noch mitfahren?«
»Irgendwann muss jeder sterben.«
»Niemand wird sterben.« Sie gingen auf die Achterbahn zu. »Wenn du Angst hast«, sagte Sue, »kannst du dich immer noch irgendwo auf eine Bank setzen, das Armband küssen und mit mir mitfahren.«
»Ich habe keine Angst.«
»Du machst dir doch in die Hose.«
»Wenigstens habe ich eine Unterhose an.«
Sie stieß ihn sanft an. »Du musst es ja nicht gleich der ganzen Welt verkünden.«
»Du da!«
Neal drehte den Kopf.
Hinter der kniehohen Theke einer Kirmesbude stand ein Mann mit Cowboyhut und roter Schürze und hielt einen Softball hoch. Er schien Neal direkt anzusehen.
»Ja, du! Komm her! Gewinn einen tollen Preis für die Kleine! Jeder Ball ein Dollar. Wirf alle drei Flaschen um und gewinn! Komm rüber, Kumpel! Zeig ihr, was du zu bieten hast!«
Neal lächelte verlegen, schüttelte den Kopf und ging weiter.
»Willst du mir nicht zeigen, was du zu bieten hast?«, fragte Sue grinsend.
»Ich bin nicht besonders gut bei solchen Spielen. Möchtest du es probieren?«
»Ich? Ich will mit dem Pony-Express fahren.«
Sie folgten der staubigen Straße zwischen den Buden, Imbissständen, Souvenirläden, verschiedenen Karussells und Spiegelkabinetten – sahen sich alles an, ohne stehen zu bleiben. Neal kam es vor, als würde die Achterbahn mit jedem Schritt wachsen.
Als sie das Ende des Mittelgangs erreichten, ragte sie über ihnen auf – ein Monstrum aus klapprigen, weiß gestrichenen Balken, an denen bunte Lichter hingen.
Sie stellten sich in der Schlange an.
Sue legte den Kopf in den Nacken. »Das nenn ich mal ein Riesending.«
»Es gibt kein Gesetz, das uns zwingt, mitzufahren.«
»Doch. Sues Gesetz: ›Mach dir keine Gedanken, tu es einfach.‹«
»Wenn man sich daran hält, kann man ganz schön in Schwierigkeiten geraten.«
»Ich bin gut damit gefahren.«
»Na ja, ich schätze, wir werden es überleben.«
Doch als die Schlange kürzer wurde, war Neal sich nicht mehr so sicher. Er stellte sich vor, wie eine ganze Reihe Wagen weit oben aus den Schienen sprang und hoch über die Anlage flog – Sue und er im vordersten Wagen.
Sie stürzten durch die Nacht, brachen durch Bäume …
Das wird nicht geschehen, sagte er sich.
Und wenn es ein Erdbeben gibt …?
Oder ein verrückter Bombenleger die Schienen sprengt?
»Alles klar?«, fragte Sue.
»Ja. Nur ein leichtes Nervenflattern.«
»Bist du schon mal mit einer Achterbahn gefahren?«
»Klar. Schon oft.«
»Ich nicht«, sagte Sue.
Er traute seinen Ohren kaum. »Du bist noch nie mit
Weitere Kostenlose Bücher