Der Gast: Roman
mal kontrolliert, ob er wirklich tot war. Mein Gott! Wenn ich nur nachgesehen hätte!«
»Diese Wenn’s können einen wahnsinnig machen.«
»Sie würde noch leben.«
»Es könnte sein. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht war ihre Zeit einfach abgelaufen – egal, was du getan hättest.« Martas Hand strich langsam und sanft über seinen Hinterkopf.
Er nickte und rieb das Gesicht an ihrem Bauch. »Manchmal regnet halt Scheiße vom Himmel«, sagte er leise.
»Und wir können nicht immer rechtzeitig den Kopf einziehen.«
Er lachte und schluchzte und bekam keine Luft mehr. »Verdammt.« Er zog sein Gesicht von der weichen Wärme zurück. »Ich hab dein T-Shirt nass gemacht.«
»Es trocknet wieder«, sagte Marta. Sie kraulte ihn an und hinter den Ohren.
Er legte den Kopf in den Nacken. Sie sah zu ihm hinab. Ihre Augen glänzten feucht. »Soll ich uns was zu essen machen?«, schlug sie vor. »Danach probieren wir es noch mal.«
Er nickte.
»Wie wär’s mit Tacos?«
»Das würde gut passen.«
»Ich heiße Neal Darden«, sagte er in die Linse des Camcorders. Dann gab er seine Adresse und seine Telefonnummer an. Er sprach langsam und bedächtig, obwohl er vom Alkohol nicht mehr viel spürte.
Seit dem ersten Versuch und seinem Zusammenbruch war eine Stunde vergangen. Er hatte eine Cola getrunken und reichlich Tortillachips mit Salsa und vier Rindfleischtacos gegessen. Kein Bier und keine Margaritas mehr.
»Ich mache diese Aufnahme«, fuhr er fort, »um zu protokollieren, was mir Sonntagnacht, am 9. Juli 1995, und am darauffolgenden frühen Morgen zugestoßen ist.
Ungefähr um 23:30 am Sonntagabend habe ich meine Wohnung verlassen, um zwei Videokassetten zu Video City am Venice Boulevard zurückzubringen. Ich wollte sie noch vor Mitternacht abgeben. Es war warm draußen, deshalb hatte ich das Autofenster offen. Sonst hätte ich die Schreie wahrscheinlich nicht gehört.«
Er sprach weiter in die Kamera. Ihm war bewusst, dass das Band eines Tages von Fremden angesehen werden könnte, doch seine Worte waren an Marta gerichtet. Sie sollte alles erfahren – fast alles –, denn auf eine Art war es auch ihre Geschichte.
Er wäre nicht so spät nachts zur Videothek gefahren, wenn er die Filme nicht zuvor ausgeliehen hätte. Und er hatte sie vor allem ausgeliehen, weil er gewollt hatte, dass Marta bei ihm saß und sich mit ihm einige seiner Lieblingsfilme ansah.
Statt gegen zehn Uhr in ihre eigene Wohnung zu fahren und sich für die Arbeit fertig zu machen, war sie bei ihm geblieben. Sie hatten auf dem Sofa miteinander geschlafen. Dann war sie nach unten zu ihrem Auto gegangen und mit einer Tasche zurückgekehrt, in der sich ihre Arbeitskleidung befand. »Ich hab die Klamotten mitgebracht, für den Fall, dass es spät wird«, hatte sie erklärt. Sie war im Bad verschwunden und bald darauf in ihrem eleganten Stewardessenkostüm frisch gebürstet und geschminkt wieder herausgekommen.
Es war wunderbar gewesen.
Nur dadurch war er zum Zeitpunkt von Elises Schreien genau am richtigen Ort gewesen.
Deshalb war es auch Martas Geschichte. Neal hatte das Gefühl, sie über einen Teil ihres eigenen Lebens ins Bild zu setzen – einen wichtigen Teil, der sich in ihrer Abwesenheit ereignet hatte.
Er war immer davon ausgegangen, dass er ihr letztlich etwas erzählen würde. Schließlich würde sie zwangsläufig seine Verletzungen sehen. Aber er war selbst überrascht, dass er ihr so viel erzählte – über Einzelheiten sprach, die er hatte verschweigen wollen.
Er berichtete sogar, dass Elise nackt an den Baum gefesselt gewesen war. Ihre Nacktheit hatte er eigentlich nicht erwähnen wollen, doch dann sprach er unwillkürlich die Wahrheit aus.
Neal schaffte es, über seine Erregung Stillschweigen zu bewahren. Er hatte schon zugegeben, sich in Elise verliebt zu haben; Marta konnte bestimmt darauf verzichten, dass er auch noch seine Erektionen auflistete.
Er erzählte auch nichts von seinem Kampf gegen die Versuchung, mit Elise ins Bett zu gehen.
Je weniger sie von solchen Dingen erfuhr, desto besser.
Er versuchte nicht, seine Gefühle für Elise zu verbergen (dafür war es nun auch ein bisschen spät), doch er stellte sie als unschuldige Zuneigung dar. Er sprach von ihr wie von seiner Schwester oder einer wundervollen alten Freundin.
Und bemerkte, dass er tatsächlich so empfand.
Größtenteils.
Und vor allem wegen Marta. Seine Loyalität Marta gegenüber hatte ihn davor bewahrt, mit Elise ins Bett zu steigen, ihr
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