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Der Gast: Roman

Der Gast: Roman

Titel: Der Gast: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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Liebhaber zu werden.
    Jetzt ist sie nicht mehr da, dachte er. Tot. Es wird auf ewig unschuldig zwischen uns bleiben.
    Er musste wieder weinen.
    Immer wieder überkam es ihn, während er seine Geschichte erzählte. Jedes Mal legte er eine kurze Pause ein, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte, doch Marta hielt die Kamera nicht an.
    »Kannst du nicht solange ausschalten?«, hatte er beim ersten Mal gefragt.
    »Besser nicht. Wir sollten das Band durchlaufen lassen, damit man hinterher sieht, dass es ungeschnitten ist.«
    Also ließen sie es laufen, egal was geschah.
    Manchmal hörte Neal, wie sie hinter der Kamera schniefte oder stöhnte. Doch sie sagte kaum etwas. Nur hin und wieder fragte sie nach, wenn Neal sich unklar ausdrückte oder Details ausließ, die ihr wichtig erschienen. Sie kommentierte das Geschehen fast nie.
    Nur, als er Elises Leiche in der Badewanne beschrieb.
    »O mein Gott«, sagte sie.
    Neal wünschte, er hätte es nicht so ausführlich beschrieben. Es wäre einfach gewesen, das Schlimmste auszulassen. Doch er hatte das Gefühl, ihr die Wahrheit schuldig zu sein.
    Die Wahrheit über fast alles, außer über das Armband.
    Elises persönliches Geschenk an ihn.
    Marta von dem Armband zu erzählen hätte bedeutet, Elises Vertrauen zu missbrauchen, deshalb behielt er es für sich.
    Er ließ es einfach aus.
    In seiner Geschichte erhielt er weder das Armband noch sonst irgendeine Belohnung dafür, dass er Elise das Leben gerettet hatte. Er probierte es nicht bei ihr im Wohnzimmer aus. Er benutzte es auch nicht, nachdem er das Haus verlassen hatte, um kurz nach der Leiche des Mannes zu sehen oder um zurückzueilen und Elise zu warnen, dass der Dreckskerl vermutlich doch nicht tot war – und sich hilflos in ihrem Körper wiederzufinden, als er in der Diele über sie herfiel.
    Was Marta und die Videoaufnahme betraf, waren diese Dinge nie geschehen.
    In seiner Geschichte hatte ihn auf dem Heimweg von Elises Haus die Neugierde übermannt. Er hatte einen Umweg gemacht und war an der Stelle in der Nähe des Freeway vorbeigefahren, wo er sie gerettet hatte.
    Nur um zu entdecken, dass der Lieferwagen verschwunden war.
    Er war über das Feld gelaufen.
    Die Leiche war weg.
    Er hatte das Schlimmste befürchtet und war zurück zum Auto gerannt.
    An dieser Stelle kehrte er zur Wahrheit zurück und berichtete von seiner halsbrecherischen Fahrt zu Elises Haus, bei der er sämtliche Verkehrsregeln gebrochen hatte und doch nicht schnell genug gewesen war – nicht schnell genug, um sie vor der Folterung und Ermordung durch den Psychopathen, der eigentlich tot sein sollte, zu retten.
    Schließlich meinte er: »Das war’s, glaube ich.«
    »Okay«, sagte Elise hinter der Kamera. »Jetzt lass mich dir ein paar Fragen stellen.«
    »Klar.«
    »Du hast den Mann schon ziemlich gut beschrieben, aber was meinst du, wie groß er war?«
    »Vielleicht knapp einen Meter fünfundachtzig. Ein paar Zentimeter größer als ich.«
    »Gewicht?«
    »Ich weiß nicht. Er war dünn. Nur Haut und Knochen. Ausgezehrt. Ich konnte die Rippen durch sein Hemd sehen. Deshalb bin ich auch so sicher, dass er keine kugelsichere Weste anhatte.«
    »Alter?«
    »Das ist genau wie beim Gewicht. Schwer zu sagen. Ich habe sein Gesicht nie richtig gesehen. Die ganzen Haare und der Bart. Graue Haare sind mir jedenfalls nicht aufgefallen. Und er war flink und kräftig. Zwischen zwanzig und vierzig, würde ich vermuten.«
    »Das hilft uns echt weiter.« Ihr Gesicht war größtenteils von der Kamera verdeckt, doch sie klang belustigt.
    »Ich kann das Alter immer schlecht schätzen«, erklärte Neal.
    »Das kann man wohl sagen.« Kurz darauf fragte sie: »Könntest du ihn wiedererkennen, wenn du ihn noch mal sehen würdest?«
    Er musste darüber nachdenken. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er nach einer Weile. »Ich könnte ihn nicht von jedem anderen dünnen Mann mit langem schwarzem Bart und wirrem Haar unterscheiden. Und wenn er beim Friseur war, käme er mir nicht einmal bekannt vor.«
    »Könnten das Haar und der Bart unecht gewesen sein?«, fragte Marta.
    »Eine Tarnung?«
    »Ja.«
    »Möglich wär’s. Na toll. Ich hatte den Eindruck, dass sie echt waren, aber … wer weiß? Tatsache ist jedenfalls, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wie er ohne Bart und langes Haar aussieht.«
    »Er wäre einfach ein dünner Mann mit Schusswunden«, präzisierte Marta.
    »So ungefähr. Zumindest bin ich ziemlich sicher, dass er verletzt ist.«
    »Okay. Weiter.

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