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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Wagen sich von unserem Haus entfernte.
    In der Rückschau erkenne ich dies heute als genau den Moment, in dem meine Kindheit endete. Nach dem Selbstmord meines Vaters war ich nie wieder jung. In emotionaler Hinsicht blieb ich stehen. Die Gefühle, die ich an jenem Tag empfand, sind auch die Gefühle, die heute mein Leben beherrschen. Wenn ich das Chaos verabscheue und fürchte, so kommt das nicht von ungefähr.
    Für manche ist es immer zu spät für eine Kindheit, von glücklich ganz zu schweigen.
    Wo war ich?
    Yo! Eine weitere trockene Explosion drang an mein Ohr. Ich fuhr herum und sah gerade noch, wie der Sheriff das Schloß beiseite trat, das er aus der Tür geschossen hatte, und durch die Glastür rumpelte. Drinnen lag ein Körper reglos wie eine Stoffpuppe auf dem Boden. Über der Tür zischte giftig das Schild PURCHASE FROM PURCHASE. Autos kamen angerast und hielten mit quietschenden Reifen an der Bordsteinkante. Journalisten mit Kameras und Mikrofonen und Filmleuchten und Tonbandgeräten drängten zur Tür und rempelten sich gegenseitig um, um einen besseren Blick auf den soeben verschiedenen Täter zu bekommen. Blitzlichter erhellten stroboskopisch die Szenerie. Der Sheriff kam aus dem Gebäude, Pistole und Megaphon hingen schlaff an den Goldstreifen seiner Hosenbeine herab. Er ging ruckartig, so als fehlte jedes zweite Einzelbild aus dem Film. Er beantwortete ein paar Fragen, schüttelte den Kopf, wies mit dem Kinn zu mir herüber.
    Im nächsten Moment trieb der große Wagen, auf dessen Rücksitz ich zusammengesunken saß, in einem Meer von Reportern. Blitzleuchten blendeten mich aus nächster Nähe, eine lange Fernsehkamera schob sich durch das offene Fenster in den Wagen, und ihr Objektiv fuhr surrend vor und zurück bei dem Versuch, sich auf mein tränenüberströmtes Gesicht scharfzustellen.
    »Können Sie uns sagen, wie Sie hinter die Identität des Serienmörders gekommen sind?«
    »Ich kann zu Ihnen sagen, daß ich die Spieltheorie angewandt habe, ebenso die Theorie der Zufälligkeit, um zu beweisen, daß der Täter versuchte, seine Verbrechen als absolut zufällig, also zusammenhanglos erscheinen zu lassen. Diese Entdeckung führte direkt zu dem Serienmörder.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Würden Sie das bitte wiederholen?«
    »Könnten Sie das noch mal ablaufen lassen und dabei direkt in die Kamera schauen?«
    »Es ist so augenfällig wie die Nase in Ihrem Gesicht. Der bewußte Versuch, Zufälligkeit herzustellen, negiert die Zufälligkeit.«
    »Wieso stehen Sie so auf Zufälligkeit?«
    »Ob das Universum zufällig oder determiniert ist, erweist sich letztlich als die ultimative philosophische Frage. Unser Bild vom Wesen des Universums und davon, warum wir Passagiere des Planeten Erde sind, hängt von der Antwort auf diese Frage ab. Die Suche nach einem einzigen Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit kann daher als Suche nach Gott interpretiert werden.«
    »Was sind Sie, ein religiöser Spinner?«
    »Sagen Sie, sind Sie nicht der Gastprofessor am Institut für Chaosforschung, der sich auf dem Gelände der Atommülldeponie vor den Bulldozer geworfen hat?«
    »Könnten Sie unseren Zuschauern sagen, wie man sich fühlt, wenn man ein Verbrechen aufklärt, an dem sich die Polizei die Zähne ausgebissen hat?«
    Bevor ich den Mund aufmachen konnte, rief ein Journalist: »Könnten Sie uns sagen, wie es ist, für den Selbstmord eines anderen verantwortlich zu sein?«
    »Haben Sie schon früher einmal jemanden umgebracht?«
    Ein Schrei kam mir aus tiefster Brust. »Um Himmels willen, ich war doch erst sechs. Ich war noch nicht mal halbwüchsig, von erwachsen ganz zu schweigen.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Er hat gesagt, er war erst sechzig.«
    »Der ist doch bestimmt keinen Tag älter als fünfzig.«
    »Wie schaffen Sie es, jünger auszusehen, als Sie sind?«
    »Halten Sie eine bestimmte Diät?«
    »Treiben Sie regelmäßig Sport?«
    »Hatten Sie eine Schönheitsoperation?«
    »Haben Sie sich Haare implantieren lassen?«
    »Stimmt das Gerücht, daß Sie Ihr Alter falsch angegeben haben, um dem Wehrdienst in der Sowjetunion zu entgehen?«
    »Es gibt keine Sowjetunion mehr«, setzte ich an, aber meine Worte gingen in einem Trommelfeuer von Fragen unter.
    »Wie denken Sie über die Europäische
    Wirtschaftsgemeinschaft?«
    »Wie stehen Sie zur Euthanasie?«
    Ich wollte ihnen sagen, daß ich mich mehr um die Not der Jugendlichen in Europa sorgte, aber es war offensichtlich, daß meiner Antwort

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