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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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natürlich nicht hören.
    Ich kurbelte mein Fenster ganz herunter und steckte den Kopf hinaus, um besser zu sehen, aber es war trotzdem noch alles verschwommen. Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte, strömten aus meinen blutunterlaufenen Augen. Ich weinte, wie ich nicht mehr geweint hatte, seit. seit.
    Durch den Tränenschleier sah ich, wie Norman herumwirbelte und mit der Hand das Objektiv der Fernsehkamera abdeckte. Gott segne ihn für sein Taktgefühl, sogar ein Täter hat ein Anrecht auf ein bißchen Intimsphäre, wenn er sich das Gehirn rauspustet. Ich sah auch weg. In mir gütiger Gott, wäre es doch nur ein Traum gewesen, den ich so leicht hätte überstreifen und wieder loswerden können wie den ärmellosen Pullover, den meine Mutter mir gestrickt hatte, als sie aus dem Gefängnis kam –, in mir hörte ich die gedämpfte Explosion, sie hörte sich an wie ein scharfer, trockener Husten hinter einer geschlossenen Tür, ich sah die gesichtslosen Männer, die die Wohnung durchsucht hatten, zum Badezimmer stürmen, sah einen die Tür aus den verrosteten Angeln treten, ich hörte meine Mutter einen Schrei ausstoßen, der so unmenschlich war, daß er meine Trommelfelle durchbohrte. Und dann drängte ich mich durch die Männer, die um die Badewanne standen, sank neben ihren dicksohligen, eisenbeschlagenen Schuhen auf die Knie und starrte mit offenem Mund auf die sirupartige Flüssigkeit, die zwischen den dicken Lippen hervorsickerte, die so oft spielerisch meine kindlichen Lippen geküßt hatten.
    Mein Vater.
    Mein Vater umklammerte die deutsche Luger, die er aus dem Großen Vaterländischen Krieg mitgebracht und jedesmal zusammen mit der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force hervorgeholt hatte, wenn er die Geschichte erzählte, wie er höchstpersönlich Polen befreit hatte, als bewiese die Existenz dieser beiden Trophäen, daß er tatsächlich dort gewesen war. Rücksichtsvoll wie immer war er in die Badewanne gestiegen, bevor er sich erschoß, um nicht unser kostbares ostdeutsches Linoleum mit Blut zu beflecken. Seine starren Augen waren auf meine gerichtet, in ihnen lag, so schien es mir damals, und so scheint es mir heute noch, ein melancholischer Tadel, eine unausgesprochene Frage. Warum hast du es getan? fragten seine Augen. Und dann starrte er mich an, ich weiß nicht, wie ein sechsjähriges Kind so etwas merken kann, aber es stimmt, das ist ein wahres Detail, er starrte mich tatsächlich an, ohne mich zu sehen. Und da zählte ich zwei und zwei zusammen und konnte mir plötzlich denken, was das Wort bedeutete, das meine Eltern mir partout nicht hatten erklären wollen.
    Das Wort lautete: Tod.
    Ich konnte mir auch denken, was mit meiner Schildkröte und meinem Goldfisch und mit dem jüngsten Bruder meiner Mutter geschehen war, meinem verrückten Onkel Hippolyt, der mir jedesmal gestreifte Zuckerstangen mitbrachte, wenn er zu uns kam, bis er eines Tages nicht mehr kam und meine Mutter alle Fotos von ihm im Familienalbum verbrannte. Vielleicht lag es daran, daß diese vielen Informationen, die alle innerhalb eines so kurzen Zeitraums gespeichert wurden, die Schaltungen meines Gehirns überlasteten, oder vielleicht war es der Anblick eines dieser gesichtslosen Männer, der mit seinen schmutzigen Wurstfingern meinem Vater die Augen zudrückte – wie auch immer, mir drehte sich der Kopf von all den Fragen, auf die es plötzlich unbequeme Antworten gab.
    Ich habe normalerweise keinen Blick für Details, aber in diesem Fall kann ich die Szene so genau rekonstruieren, als hätte sich die ganze Episode erst gestern abgespielt. Mit meinen sechs Jahren hatte ich bereits die Gewohnheit angenommen, mich dem momentanen Chaos zu entziehen, indem ich mich in Traumwelten flüchtete. Ich weiß noch, daß ich den Atem anhielt und entgegen aller Wahrscheinlichkeit hoffte, das Ganze sei ein Traum, aus dem ich mich jederzeit wieder ausklinken konnte.
    Ich ließ alle Hoffnung fahren, als die gesichtslosen Männer den Leichnam meines Vaters in einen blutbefleckten Kartoffelsack steckten, ihn die Treppe hinunterschleiften der Aufzug war wie gewöhnlich kaputt – und ihn auf die Ladefläche eines Pritschenwagens warfen. Tränen strömten mir aus den Augen, die von dem vielem Weinen blutunterlaufen wurden und für den Rest meines nicht enden wollenden Lebens so bleiben würden, als ich durchs Fenster auf die Straße hinunterschaute und sah, wie der Kartoffelsack von einer Seite auf die andere rollte, während der

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