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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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beherrscht. Mit wehenden bunten Schals bewegen sie sich in dem watschelnden Entengang, den er zum erstenmal bei Word Perkins gesehen hat, als dieser sich am Abend zuvor per highfive von ihm verabschieden wollte. Verblüfft bemerkt Lemuel, daß die Studenten offenbar tatsächlich dorthin wollen, wohin sie unterwegs sind. Er kommt zu dem Schluß, daß die Amerikaner vielleicht einen sonderbaren Gang haben, sich aber im Gegensatz zu ihren russischen Zeitgenossen nicht vor Reisen fürchten, die mit einer Ankunft enden.
    Lemuel geht weiter, vorbei an einem Postamt, einem Drugstore, einem Billard-Salon, einer Buchhandlung. Die Gebäude sind eher winzig, von Wolkenkratzern keine Rede. Er erklimmt eine verharschte Schneewächte und geht vorsichtig weiter, die gesandete Straße entlang. An der nächsten Kreuzung bleibt er stehen und inspiziert ein Gebäude, das wie ein Hangar mit Flachdach aussieht; an einem galgenähnlichen Gebilde mitten auf dem gefrorenen Rasen hängt ein Schild, auf dem in bunten Neonfarben »E-Z Mart« steht. Aha, »EASY« Market, ein Supermarkt. Lemuel erinnert sich an Gerüchte von Hangars mit unendlich langen Regalreihen. Sein Schwiegersohn hatte sich angeblich mal in so einem Hangar in West-Berlin verlaufen und erst nach ein paar Stunden wieder hinausgefunden, eine Geschichte, die Lemuel seinerzeit für ein Gleichnis genommen hat.
    Den Aktenkoffer unter dem Arm, drückt Lemuel mit der Schulter die Pendeltür auf und steht vor endlosen Regalreihen. Sein Herz, das er nicht auf dem Ärmel trägt, kommt ins Stottern und schlägt dann um so schneller. Er erschrickt über einen warmen Luftstrom, der aus einem in den Fußboden eingelassenen Gitter heraufweht. Er wirft sich durch diese Wand aus Wärme, schiebt sich durch ein Drehkreuz und geht beherzt in einen der langen Gänge. Auf beiden Seiten ziehen sich Regale entlang, so weit das Auge reicht – und die Regale sind ausnahmslos mit Lebensmitteln vollgestapelt!
    Wenn das doch nur der Große Führer und Lehrer sehen könnte. Lenin hatte immer behauptet, Quantität lasse sich in Qualität umwandeln. Und hier, in den Gängen eines Lebensmittelgeschäfts, fand sich der greifbare Beweis dafür.
    Lemuel inspiziert Dosen mit Corned beef, Maisgemüse und gebackenen Bohnen und bemerkt dabei, daß seine Fingerspitzen taub geworden sind. Als er Gläser mit kalorienarmer Erdnußbutter, Plastikbehälter mit Hershey-Schokoladencreme und Fäßchen mit Ahornsirup aus Vermont in Augenschein nimmt, werden ihm die Knie weich. Er taumelt, befürchtet einen Anfall von Schwindel im Endstadium, klammert sich an ein Regalbrett, atmet mehrmals tief ein und aus, faßt sich an die Nase und ist erleichtert, daß sie kalt und feucht ist. Oder (jäher Zweifel) ist das nur bei Hunden ein Zeichen von Gesundheit? Verwirrt hastet er weiter und befingert unterwegs Klarsichtpackungen, die mit Spaghetti jeder erdenklichen Größe, Form und Farbe gefüllt sind. Seine Lippen bilden die Buchstaben nach, er liest die Etiketten auf Gläsern mit Spaghettisauce – mit oder ohne Fleisch, mit oder ohne Champignons, mit oder ohne Kalorien, mit oder ohne künstliche Farbstoffe. Blitzartig begreift er, daß es in diesem Wunder von einem Land Leute gibt, die Zeit und Geld darauf verwenden, Spaghetti sauce rot zu färben.
    Am Gemüsestand kämpft er mit den Tränen, als er die Fingerspitzen über einen knackigen Eissalat gleiten läßt. Er schickt sich an, eine Gurke zu streicheln, läßt sie aber wieder in den Behälter fallen, als eine vollschlanke Frau mit Schnurrbart, die einen mit Waschmitteln vollgestapelten Einkaufswagen vor sich herschiebt, entrüstet mit der Zunge schnalzt. Am Obststand verliert Lemuel vollends die Fassung. Er schnappt sich eine Zitrone – seit mehr als zwei Jahren ist ihm keine Zitrone mehr unter die blutunterlaufenen Augen gekommen –, hält sie sich an die Nase und saugt gierig den berauschenden Duft ein.
    Benommen, geblendet, von einer Seite auf die andere taumelnd, biegt Lemuel so rasch um eine Ecke, daß er fast mit einem dunkelblonden Pferdeschwanz kollidiert. Er bemerkt, daß die junge Frau, die zu dem Pferdeschwanz gehört, eine Dose Sardinen über ihre Schulter in die Kapuze ihres Dufflecoats gleiten läßt.
    »Was machen Sie da?« platzt er heraus.
    Das Mädchen, das unter dem Dufflecoat enge, verwaschene Jeans und knöchelhohe Schnürstiefel trägt, dreht sich zu ihm um. »Yo! Ich klaue Sardinen«, verkündet sie in aller Unschuld. Sie blinzelt mit ihren

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