Der Gastprofessor
riesiggroßen seetanggrünen Augen, als hätte sie Mühe, sie auf ihn scharfzustellen. »Und was klauen Sie?«
Lemuel hat das unheimliche Gefühl, schon einmal in diese Augen gesehen zu haben. Verwirrt streckt er ihr die leeren Hände hin, die Handflächen nach oben. »Ich klaue nichts. Ich schaue nur.«
Das Mädchen läßt ein genau berechnetes Lächeln aufblitzen, halb trotzig, halb entschuldigend; Sommersprossen tanzen auf ihrem Gesicht. »Hey, seien Sie kein Stockfisch. Klauen Sie was. Weiß doch jeder, daß die ihre Preise wattieren, um die Ladendiebstähle abzufedern. Deswegen muß auch wirklich wer was stehlen, damit die Supermärkte ehrlich bleiben. Logisch? Sonst machen die Extragewinne, weil keiner was klaut.«
»Ich muß gestehen, so hab ich das noch nie gesehen.«
Das Mädchen zieht eine Schulter hoch. »Hey, Sie sind ja der reinste Dichter.« Verträumt lächelnd schlendert sie zwischen den Regalen durch, studiert Etiketten und läßt die Dosen mitgehen, die ihr zusagen.
Lemuel gelangt auf Umwegen in die Bierabteilung und ist von der Auswahl überwältigt. Vor den Dosen und Flaschen und Sechserpacks und Zwölferpacks und Kästen jeder erdenklichen Form und Größe rollt er fassungslos die Augen. Ein junger Mann mit einem blonden Dreitagebart, das lange Haar mit einem bunten Band zurückgebunden, mit einer Nickelbrille auf der Nase und einem silbernen Ring im Ohrläppchen, bugsiert mühsam einen fahrbaren Untersatz mit Kästen alkoholfreien Biers an ihm vorbei. Ein Ansteckschild an seinem Flanellhemd weist ihn als »Manager« und »Dwayne« aus.
»Wenn Sie nicht finden, was Sie suchen«, sagt Dwayne, »fragen Sie.«
Lemuel nimmt seinen ganzen Mut zusammen. »Sie verkaufen nicht vielleicht auch Kwas?«
Der Manager kratzt sich am Bart. »Ist das ein Markenprodukt oder was Generisches?« Als Lemuel ihn verständnislos ansieht, fragt er: »Was genau ist denn Kwas?«
»Eine Art Bier, das aus Brot gebraut wird.«
»Wenn jemand da draußen so clever ist, daß er Bier aus Brot machen kann », erklärt Dwayne mit einem sympathischen Lachen, »werden wir das verdammt noch mal auch verkaufen. Falls Sie es noch nicht gehört haben sollten, im E-Z Mart ist der Kunde König.« Er holt einen Notizblock und einen Bleistift hervor. »Wie schreibt sich denn Kwas?« erkundigt er sich, die Bleistiftspitze leckend, und sieht Lemuel gespannt an.
»Kwas schreibt sich K, W, A, S.«
Dwayne schaut von seinem Block auf und mustert Lemuel durch seine kreisrunden Brillengläser. »Sie sprechen mit Akzent.«
»Finden Sie?«
»Ja, Sportsfreund, finde ich. Aber wegen einem Akzent braucht sich bei uns keiner schämen. Amerika ist ein Schmelztiegel von Akzenten. Wo kommen Sie her?«
»Sankt Petersburg. Rußland.«
Dwaynes Miene erhellt sich. »Ist ja cool. Als ich in Harvard Betriebswirtschaft studiert hab, hab ich meine Magisterarbeit über die Nachteile zentraler Planung in einer nicht marktorientierten Volkswirtschaft geschrieben. Der Titel war Spitze: »Staatlich verordnete Inkompetenz.«
»Was machen Sie mit einem akademischen Grad von der Harvard University in einem Supermarkt in Backwater?«
Dwayne zieht ein Päckchen Life Savers aus der Brusttasche seines Hemdes, bietet Lemuel eins an und nimmt selbst eins, als dieser den Kopf schüttelt. »Ich hab eine Zeitlang an der Wall Street mitgemischt«, sagte Dwayne, »bei einer Brokerfirma, die zu den Fortune 500 gehörte. Ich hab die Struktur von Unternehmen analysiert, einen Haufen Geld verdient, mir die Hände in Vorstandstoiletten gewaschen, wo es richtige Handtücher gibt, eine Eigentumswohnung an der Third Avenue gehabt, die ganze Manhattan-Szene. Shirley, das ist die Kassiererin mit der Naturwelle, Shirley und ich haben dann beschlossen, daß wir lieber normale Fischchen in einem kleinen, unverseuchten Teich sein wollen als Goldfische in einer Kloake. Und deshalb« – Dwayne macht mit den Armen Schwimmbewegungen – »schwimmen wir jetzt hier herum.« Er steckt den Block wieder in seine Jeans und reicht Lemuel die Hand. »Für meine Freunde bin ich Dwayne.«
Lemuel schlägt ein. »Ich bin Falk, Lemuel, für jedermann.«
»Tja, war nett, mit Ihnen zu reden, Lem, Sportsfreund. Lassen Sie sich mal wieder sehen in unserem Teich, ja?«
Wieder draußen auf der Straße, verspürt Lemuel so etwas wie einen Tiefenrausch – er fühlt sich wie ein Taucher, der, aus schwindelnden Tiefen hochgekommen ist. In seinem Kopf tönt eine Melodie, die er nicht kennt. Es dauert
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