Der Gastprofessor
offenbar etwas, was keiner sein will. Lemuel betritt den Kramladen im Erdgeschoß eines heruntergekommenen, hundert Jahre alten zweigeschossigen Holzhauses an der Ecke Main und Sycamore Street und strebt zum Ladentisch. »Ich suche den Friseursalon«, sagt er zu dem noch keine zwanzig Jahre alten Verkäufer, der mit einem Schraubenzieher die Schublade einer altmodischen Registrierkasse aufzubrechen versucht.
Der Verkäufer zeigt mit dem Kinn zum hinteren Teil des Ladens. Zwischen Gestellen mit Skianoraks, Langlaufskis und Jogginganzügen schlängelt sich Lemuel zu einer gebrechlich wirkenden Holztreppe durch. Eine große Hand mit unzüchtig ausgestrecktem, nach oben weisendem Mittelfinger ist auf die Scheunenbretter der Wand neben der Treppe gemalt.
Die Stufen ächzen unter Lemuels Gewicht. Das silbrige Schnippschnapp einer Schere ist hinter dem Vorhang zu hören, der am oberen Ende der Treppe anstelle einer Tür angenagelt ist. Lemuel tritt durch den Vorhang und steht im Frisiersalon.
Die junge Frau, die in dem Supermarkt mit den endlosen Regalreihen Sardinen gestohlen hat, tänzelt um einen jungen Mann herum, der auf einem altmodischen Drehstuhl aus Chrom und rotem Leder sitzt. Mit wippendem Pferdeschwanz springt sie zurück, um ihr Werk zu begutachten, macht dann einen Satz nach vorne und attackiert das Haarbüschel über einem Ohr. Schnippschnippschnippschnipp. Hinter ihr durchschneiden Sonnenstrahlen eine große Fensterscheibe, auf der verblichene Buchstaben einen Bogen bilden. Lemuel liest die Lettern von links nach rechts:REDNET. Es dämmert ihm, daß die Buchstaben ein Wort ergeben und daß das Wort von draußen zu lesen ist, für ihn also von rechts nach links.
»Tender. Aha! Das ist also ein Tender.«
Die Friseuse nickt zu den einfachen Holzstühlen hin, die an einer Wand aufgereiht sind. Sie läßt sich nicht anmerken, ob sie Lemuel aus dem E-Z Mart wiedererkennt. »Bin gleich für Sie da«, murmelt sie. Dann wendet sie sich wieder ihrem Kunden zu, baut sich hinter seinem Stuhl auf und mustert ihn im Spiegel. »Na, Warren? Du siehst beinah phantastös aus, aber nicht ganz.«
»Meine Koteletten sind ätzend.«
»Wenn du eine abweichende Meinung verträgst, ich finde, du siehst damit aus wie … Rhett Butler.«
»Wirklich?«
»Hey, du kennst doch meinen Werbeslogan: ›Ein Haarschnitt von mir macht einen andern Menschen aus dir.‹«
Lemuel stopft sein Halstuch in den Ärmel seines verschossenen braunen Mantels und legt diesem mitsamt seinem Sakko über eine Lehne, dann setzt er sich auf einen Stuhl neben einem niedrigen Tischchen mit einem ganzen Stapel Playboys. Er nimmt sich ein Heft, das durch so viele Hände gegangen ist, daß sich die Seiten wie weicher Stoff anfühlen. Mit einem Blick zu der Friseuse überzeugt er sich, daß er nicht beobachtet wird, und blättert sich bis zum Ausklappbild in der Heftmitte durch. Als Petersburg noch Leningrad war, hat er einmal einen Playboy auf einem Flohmarkt durchgesehen. Der Preis entsprach einem Wochenlohn, was ihn aber nicht abhielt, ihn zu kaufen, um sein Englisch zu verbessern. Er fand damals und findet auch jetzt, daß die splitternackten Frauen, die einem von den Seiten der Zeitschrift entgegenlächeln – das Schamdreieck säuberlich zu einem Spitzbart getrimmt, die Nippel ihrer makellosen Brüste wie Kanonenrohre auf den Leser gerichtet –, ungefähr so erotisch wirken wie tiefgefrorene Fische. Ihre Nacktheit geht seiner Ansicht nach nicht unter die Haut.
Am anderen Ende des Raums geht die Sardinendiebin vor ihrem Kunden in die Knie und schnippelt mit der Scherenspitze vorsichtig die aus den Nasenlöchern sprießenden Haare ab. Danach pudert sie ihm mit einem weichen Pinsel den Nacken ein, befreit ihm mit einem Ruck von dem blauweiß gestreiften Umhang und schüttelt die Haare auf den Boden, der mit einer dünnen Schicht Haare bedeckt ist, die ihr bei jeder Bewegung um die Füße wirbeln.
»Yo«, zitiert sie Lemuel herbei.
Der Student reicht der Friseuse einen Geldschein. »Behalt das Kleingeld, Rain. Bist du für die Delta Delta Phi Party heute abend gebongt? Wie man hört, haben die ein paar heiße Filme besorgt.«
»Vielleicht.«
»Was heißt das, vielleicht?«
Sie schaltet plötzlich auf Abwehr und sagt: »Vielleicht heißt vielleicht nicht.«
Lemuel schwingt sich auf den Drehstuhl.
»Hey, Sie sind bestimmt neu hier, stimmt’s?« sagt die Friseuse. »Und, haben Sie meinen Rat befolgt und was geklaut, damit der Supermarkt ehrlich
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