Der Gastprofessor
bleibt?«
Lemuel hat gehofft, daß sie ihn wiedererkennen wird. Verdattert antwortet er: »Ich wollte Kwas klauen, habe aber in den Regalen keins gefunden.«
Die Sardinendiebin zuckt die Achseln. »Bloß gut, daß ich genug für uns beide geklaut hab.«
Lachend zieht sie ihm den gestreiften Umhang über den Kopf und steckt das obere Ende in seinen Kragen. Einen Moment lang sieht sie ihn komisch an, dann beugt sie sich vor und zieht behutsam das Stückchen Toilettenpapier von seinem Kinn ab. Ihr Gesicht ist so nahe, daß er ihren Lippenstift riechen kann. Wieder hat er das Gefühl, ihr schon einmal in die Augen gesehen zu haben.
»Ich habe mich beim Rasieren geschnitten«, brummt er verlegen.
»Ich hatte nicht angenommen, daß es bei einem Duell passiert ist.« Die Schere in der einen Hand und einen Kamm in der anderen, mustert Rain das graue Gestrüpp auf Lemuels Kopf. »Also, was wollen Sie?«
»Einen Haarschnitt.«
»Sehr witzig. Was für einen Haarschnitt? Wie wollen Sie wirken? Intellektuell? Gelehrt? Sportlich? Wie Woody Allen? Rhett Butler? Ich kann Sie in einen Renaissance-Mann verwandeln, daß Sie sämtliche Renaissance-Frauen von sich wegprügeln müssen.«
»Es gibt ein Institutsessen«, sagt Lemuel steif. »Da soll ich wie ein Homo chaoticus wirken, im Gegensatz zu einem Homo soviéticas. «
»Ich weiß, was ein Homosexueller ist. Aber ein Homochaoticus …«
»Das ist ein Mann in seiner Rolle als Chaotiker, also als Chaosprofessor.«
»Yo! Schon verstanden. Sie müssen einer von den Stockfischen aus dem gottverdammten Institut in der alten Bruchbude hinter der Bibliothek sein. Wissen Sie was? Wenn Sie wie ein Chaosprofessor aussehen wollen, sollten Sie Ihre Haare so lassen, wie sie sind.«
Mit gespreizten Fingern bemüht sie sich ein paar Minuten lang, sein Haar zu entwirren. Einmal verzieht Lemuel das Gesicht.
»Entschuldigung.« Sie setzt das halb trotzige, halb entschuldigende Lächeln auf, das er schon im E-Z Mart auf ihrem Gesicht gesehen hat.
Erst vorsichtig, dann mit wachsendem Zutrauen schnippelt sie an seinen Haaren herum. »Sie haben doch sicher einen Namen.«
»Falk, Lemuel.«
Rain hält im Schneiden inne und spricht mit Lemuels Spiegelbild. »L. Falk. Sie sind der russische Typ aus der Sendung heute nacht im Radio. Ich weiß noch, Sie haben gesagt, daß Zufälligkeit Unwissenheit ist oder so ähnlich. Ich war mir nicht sicher, was Sie damit gemeint haben, aber es hat sich jedenfalls verdammt intellell angehört. Hey, wie finden Sie das? Die Welt ist klein, stimmt’s? Ich mein, ich war diejenige, die direkt nach Ihnen angerufen hat.«
»Sie sagten etwas über einen G-Punkt …«
»Sie haben mich also gehört?«
»Was, in Gottes Namen, ist ein G-Punkt?«
Rain rückt Lemuels Kopf zurecht und schnippelt weiter. »Den haben, glaub ich, Sigmund Freud und Co. entdeckt. Es ist ein äußerst empfindlicher Punkt ungefähr so groß wie ein Fingerabdruck auf der Innenseite der.« Die Schere zögert. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
Lemuel denkt sich, da er sitzt und sie steht und er sie deshalb nicht auf den Arm nehmen kann, ist das bestimmt wieder eine Redewendung, mit der er sich vertraut machen muß. Außerdem begreift er, daß es sich um was Sexuelles handelt. Er versucht sich zu erinnern, ob seine Geliebte daheim in Petersburg einen solchen Punkt hatte, kommt zu dem Schluß, daß das Thema ein Minenfeld ist, und umgeht es auf Zehenspitzen.
»Ist Rain Ihr Vorname oder Ihr Familienname?«
»Vorname. Mein Familienname ist Morgan. Ich hab denselben Namen wie ein Typ, den Sie als Russe und so wahrscheinlich nicht kennen. J. P. Morgan? Nein. Hab ich mir gedacht. Der hatte was mit Geld zu tun, und das ist was, womit ich auch gern zu tun hätte.« Sie schürzt die Lippen und linst über Lemuels Kopf weg zu seinem Spiegelbild. Offenbar zufriedengestellt, nimmt sie die andere Kopfseite in Angriff. »Wie sind Sie denn zu diesem. Henkel gekommen: Rain – Regen?«
»Ich wurde nach dem Wetter am Tag meiner Geburt getauft. Mein voller Name, wie er in der Geburtsurkunde steht, lautet Strichweise Regen, aber das Strichweise laß ich meistens weg. Meine kleine Schwester heißt Leicht Bewölkt. Hippie-Eltern. Sachen gibt’s.«
»Und was bedeutet ›Tender‹?«
Rain schaut zu dem REDNET an der Fensterscheibe. »Ich hab den Salon vom Kramladen gepachtet. Der Tender war im Vertrag inbegriffen. Ich seh das so: »Tenders so sehen wir Frauen uns selbst – Sie wissen schon,
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