Der Gastprofessor
›Love me Tender‹ , wir sind › tender‹ zu den Männern, also zärtlich und sanft und liebevoll und einfühlsam. Aber die Männer haben die Tendenz, uns als – ›Tender‹ zu sehen – als den kleinen Anhänger einer Dampflokomotive.« Sie zuckt die Achseln. »Ich geb mir Mühe, mich von den Männern nicht unterkriegen zu lassen. Es gelingt mir nicht immer.«
Breitbeinig, in den Knien federnd, umkreist Rain Lemuels Kopf und plappert weiter, während sie ihm die Haare schert. »Leute, die sich nicht kennen, fangen eine Unterhaltung meistens damit an, daß sie übers Horoskop reden. Sie haben sicher auch in Rußland schon von den Tierkreiszeichen gehört, oder? Also ich persönlich, ich glaub ja nicht an den ganzen Löwen- und Steinbockmist. Ist ja vielleicht ganz brauchbar zum Kennenlernen, aber dann, was kommt dann? Dieses im Aszendenten und jenes im Deszendenten. Ich bin praktizierende Katholikin, aber was ich praktiziere, ist nicht der Katholizismus. In der Messe war ich zum letztenmal, als ich per Anhalter durch Italien gefahren bin und Geld aus dem Klingelbeutel klauen mußte, um nicht zu verhungern. Außerdem hab ich die Kerzen gestohlen und sie an Straßenecken verhökert.«
»Wenn Sie nicht den Katholizismus praktizieren, was praktizieren Sie dann?«
»Ich praktiziere Haardesign, aber nur als Teilzeitjob – ich schneide Haare, um mich durchs College zu bringen. Ich praktiziere Horn in der Blaskapelle von Backwater, obwohl ich weder marschieren noch Noten lesen kann, ich spiele nach dem Gehör. Ich praktiziere Safer Sex, den ich auch nach dem Gehör spiele, obwohl heutzutage Safer Sex ja oft null Sex bedeutet. Ich praktiziere Hauswirtschaft, das ist mein Hauptfach, und Filmgeschichte, das ist mein Nebenfach. Ich praktiziere.«
Lemuel merkt, daß er sich allmählich ausblendet. Er hört ihre Stimme weiterplätschern, kriegt aber nicht mehr mit, was sie sagt. Es ist wie ein Film ohne Ton. Von Zeit zu Zeit murmelt er »Mhm«, wobei es sich um einen Ausdruck handelt, der in keinem Wörterbuch steht, den aber jeder zu verstehen scheint. Ihm wird bewußt, daß es eine seltsam intime Angelegenheit ist, sich von einer Frau, noch dazu einer attraktiven, die Haare schneiden zu lassen. Er ist keiner fremden Frau körperlich so nahe gewesen, seit der KGB ihn wegen seiner Unterschrift unter eine Petition verhaftet und mit Handschellen an eine Filmkritikerin gefesselt hat. Als Rain sich schräg über seine Brust beugt, um ihm die über die Augen fallenden Haare zu stutzen, spürt er die Bewegung der Luft und riecht für einen Moment einen Frauenkörper, ein nach Rosen duftendes Parfüm, das schon fast, aber doch nicht ganz verflogen ist. Aus dem Augenwinkeln mustert er ihre schmalen Hüften, die Linie ihres Oberschenkels, ihre Handgelenke, die Form ihrer Fingernägel, die Ringe, die sie an fast allen Fingern trägt, keiner gleicht dem anderen. Als sie sich abwendet, um nach dem Kamm zu greifen, genehmigt er sich einen ausgiebigen Blick auf ihren Arsch, der, in ausgewaschenen, hautengen Jeans steckend, das uneingeschränkte Prädikat »prachtvoll« verdient. Immer wieder einmal sind ihre Brüste für kurze Zeit auf seiner Augenhöhe, nur Zentimeter entfernt. Am Rand seines Blickfelds sieht er, wie sich die Knöpfe an ihrem Hemd spannen, erhascht er eine Ahnung von nackter Haut, die Andeutung einer schwellenden Brust zwischen den Knöpfen. Sie trägt offensichtlich keinen Büstenhalter, was in dem Arbeiterparadies, aus dem er geflohen ist, undenkbar gewesen wäre. Einmal streift die weiche Spitze ihrer Brust sein Ohr – oder ist er nur dabei, sich einem angenehmen Wachtraum hinzugeben? Oj, Ta’amu ure’u. Wenn er nur könnte.
Und dann kürzt sie auch ihm die Haare, die aus den Nasenlöchern sprießen, lockert den Umhang, pudert ihm den Nacken ein und nimmt ihm den Umhang ab. Steifbeinig steht Lemuel auf, setzt sich die Brille wieder auf und betrachtet sich im Spiegel. »Und?«
»Ich fühle mich gehobelt.«
»Das soll das Gegenteil von ungehobelt sein, stimmt’s? Also muß es ein gottverdammtes Kompliment sein.«
Lemuel fährt sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich hoffe, man wird mich nicht für einen Studenten halten.« Er zückt eine kleine Geldbörse mit Reißverschluß, zählt fünf Dollarscheine ab und gibt sie ihr. »Ich habe gelesen, daß in Amerika Trinkgelder üblich sind, aber ich weiß nicht, wieviel.«
»Der Haarschnitt macht vierfünfzig. Die meisten geben mir fünf und sagen, ich soll das
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