Der Gastprofessor
errötet und sagt ganz leise »Nicht jetzt«.
Der Rebbe läßt sich nicht beirren. »Vielleicht haben Sie schon einmal von Rebbe Hillel gehört, einem ilui, das bedeutet Genie, wenn es jemals eins gegeben hat. Er hat im zweiten Jahrhundert gelebt und ist unter anderem bekannt für den Spruch: »Wenn nicht jetzt, wann dann?«
Rain packt Lemuel am Ellbogen und zieht ihn zur Tür. »Wohin bringen Sie mich?« erkundigt er sich.
Das spöttische Gelächter des Rebbes verfolgt ihn. »Denken Sie daran, was Augustinus, der Achetyp eines Goi, einmal gesagt hat«, ruft er ihm nach. »›Herr, mache mich keusch, aber noch nicht gleich.‹«
»Ich bringe Sie in den Bauch der Erde«, verrät Rain ihm fröhlich und zieht ihn die Wendeltreppe zum Kellergeschoß hinunter. Sie müssen sich durch Jungen und Mädchen durchschlängeln, die auf den Stufen sitzen und eine Zigarette herumgehen lassen.
»Yo, Rain«, sagt einer der Jungen. »Wir sitzen fast auf dem trockenen.«
Ein gutaussehender Junge mit schwarzen Haaren und einem Raubvogelgesicht hält Rain am Knöchel fest. »Wir könnten Nachschub gebrauchen.«
Rain macht sich los. »Du kannst mich mal«, gibt sie zurück, »im Salon besuchen.«
Lemuel fällt auf, wie konzentriert die Jungen und Mädchen der Zigarette mit den Blicken folgen. Ein Rauchwölkchen steigt ihm in die Nase. Der Duft kommt ihm irgendwie bekannt vor.
Als sie an einer offenen Tür am Fuß der Treppe vorbeigehen, sieht er ein halbes Dutzend Jungen in violetten Strickjacken, auf die ein großes gelbes »BU« aufgenäht ist, um einen blanken Holztisch mit mehreren Krügen in der Mitte herumsitzen. Eine Studentin, der die langen Haare übers picklige Gesicht fallen, füllt aus einem der Krüge winzige Schnapsgläser. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. »Okay … jetzt«, sagt sie. Die Jungen heben die Gläschen hoch und kippen den Inhalt.
»Kinderkram«, meint Rain und bugsiert Lemuel zu einem Zimmer am Ende des Gangs. »Ich zeige Ihnen, womit sich erwachsene Menschen die Zeit vertreiben.«
Sie zieht Lemuel in das Zimmer. Schwarzweißbilder flimmern auf einem Fernsehschirm. Dunst treibt träge durch das schwach flackernde Licht. Lemuel schnuppert. Das erinnert ihn an. ah! Die Regenwolke, die über Nachmans Börsenseiten gehangen hat. Er atmet den Rauch ein, ihm wird schwindlig.
Eine Stimme aus dem Dunkel: »Hey, Rain.«
»Yo, Warren.«
»Bist ja doch da.«
»Pssst.«
»Psssssst«, sagt jemand zu dem, der »Pssst« gesagt hat.
»Ist doch sowieso ohne Ton«, sagt Rain. »Warum dürfen wir dann nicht reden?«
»Ist das deine neue Masche, Rain«, fragt ein anderer, »Gräber schänden?«
»Fick dich ins Knie, Elliott«, antwortet Rain flüsternd. »In mancher Hinsicht – aber das geht über deinen Horizont – ist er jünger als wir beide zusammen.«
»Verwechselst du da nicht Jugend mit Unschuld?« lacht Elliott.
»Wenn ihr hochgeistige Gespräche führen wollt, verzieht euch nach oben«, meckert Dwayne.
»Jetzt haltet endlich die Klappe«, ruft jemand anders.
Die Rauchschwaden verdunkeln den Fernsehschirm. Auf eine Geste von Rain hin läßt sich Lemuel umständlich auf einem Kissen nieder und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er allmählich etwa ein Dutzend Jungen und Mädchen eng beisammen auf niedrigen Sofas und Kissen. Mehrere sind scheinbar zusammengewachsen wie siamesische Zwillinge. Aus der dunkelsten Ecke des Zimmers kommt ein kehliges Schnurren wie von einer Katze, die gestreichelt wird.
Rain schiebt ihre Arme unter die von Lemuel. »Das ist vielleicht einer der besten Fickfilme, die ich je gesehen hab«, haucht sie.
Lemuel klopft panisch seine Jackentaschen ab, auf der Suche nach seiner Brille, setzt sie sich unbeholfen auf und heftet den Blick auf den Fernseher. Mittlerweile von dem Mief ziemlich berauscht, hat er das Gefühl, verkehrt herum durch ein Opernglas zu schauen. Alles ist so unglaublich klein. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, blinzelt heftig und konzentriert sich auf die winzigen Bildchen auf dem Fernsehschirm. Trotz des Qualms erkennt er drei silbrige Gestalten, die scheinbar eine Art stilisiertes Ballett ohne Musik aufführen, sich abwechselnd übereinander beugen und einander aufspießen.
»Elliott, kannst du nicht zurückspulen und das Ganze nochmal in Zeitlupe abspielen?« fragt Dwayne.
Jemand, der auf der Couch sitzt, löst sich von seinem siamesischen Zwilling und richtet ein kleines
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