Der Gastprofessor
wie alle Männer, wenn sie was nicht verstehen – das ist eine gottverdammte wissenschaftliche Tatsache. Wenn man bumst, bleibt die Zeit stehen. Wenn man bumst, gibt es sowas wie ›Zeit‹ überhaupt nicht.« Rain wirft das leere Weinglas zielsicher in einen Papierkorb. »Volltreffer«, murmelt sie. »Ich muß mal pinkeln.«
Während Rain durch eine Tür verschwindet, steuert Shirley in Schlangenlinien auf Lemuel zu. Sie trägt hochhackige Schuhe, einen wippenden Minirock und einen handgestrickten Pullover mit Schulterpolstern.
»Super Party«, sagt sie.
Lemuel nickt halbherzig.
Sie hält ihm einen Kaugummi hin. Lemuel schüttelt den Kopf. »Ich hab Sie vom Supermarkt wiedererkannt«, sagt Shirley, schiebt sich den frischen Kaugummi zu dem anderen in den Mund und kaut munter drauflos, »aber ich kann mich nicht erinnern, Sie schon mal bei einer Delta-Fete gesehen zu haben.«
»Ich habe noch nie an einer Delta-Fete teilgenommen.«
»Sie sind ein ungeladener Gast«, ruft Shirley aus. »Ich mag Männer, die nicht eingeladen sind. Tanzen Sie oder so?«
Lemuel zieht sich an eine Wand zurück und räuspert sich. »Es spielt keine Musik mehr.«
Sie macht einen Schmollmund. »Das hält Sie aber nicht ab, mit dem Tender zu tanzen.«
Sie sinkt Lemuel in die Arme, so daß er keine Wahl hat. »Ich heiße Shirley«, verkündet sie. »Ich bin Dwaynes Herzblatt. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Unbeholfen versucht sie zu tanzen, verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Das war ja eine super Geschichte, die Sie da vorhin erzählt haben, von den zwei Unterschriften. Ich kann meinen Namen rückwärts schreiben. Yelrihs.«
Lemuel blickt sich hilfesuchend um. Im anderen Raum sieht er den Rebbe, der in gespielter Bewunderung den Kopf wiegt.
An Lemuels Hals hängend, sagt Shirley: »Dwayne und ich, wir haben Marihuana vom Tender geraucht, bevor wir hierher gekommen sind. Ich bin so high, zwei Stunden hab ich solche Schmerzen gehabt, aber die sind wie weggeblasen.«
Sachte macht Lemuel Shirleys Handgelenke von seinem Hals los. Sie packt ihn am Ärmel. »Sie sprechen mit Akzent«, bemerkt sie. »Ich mag Männer, die nicht eingeladen sind und komisch reden.« Als Lemuel sich von ihr losreißt, bedrängt sie ihn: »Ich könnte Ihnen beibringen, Ihren Namen rückwärts zu schreiben.«
Lemuel tritt den Rückzug an. »Oh, Scheiße«, stöhnt Shirley. »Ich bin einfach nicht so gut wie Rain.«
Lemuel geht langsam zum Rebbe hinüber, der sich angeregt mit D. J. unterhält. Er unterbricht sich, um Lemuel zu begrüßen. » Hekinah degul. Nennen Sie das Studieren? Andererseits, wer könnte behaupten, daß man auf einer Verbindungsparty nichts über das Chaos lernen kann?«
D. J., noch ganz in Gedanken, läßt Lemuel über den Kopf des Rebbes hinweg ein höfliches Lächeln zukommen. »Sie waren bei Sodom«, erinnert sie Nachman.
Der Rebbe nimmt den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf. »Ich habe heute nachmittag den Anfang von Genesis 18 gelesen. Das ist da, wo Abraham es Jahwe ausreden will, alle Einwohner von Sodom umzubringen. – Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?« fragt ihn Abraham. Abraham ist durchaus dafür, die Sünde auszurotten, aber nicht auf die Gefahr hin, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Jahwe zerstört Sodom dennoch. Er bringt die Gerechten mit den Gottlosen um. Fragt sich nur: Warum?«
»Er ist faul«, mutmaßt D. J. »Er will sich nicht die Mühe machen, die Spreu vom Weizen zu sondern.«
Rain gesellt sich zu ihnen. »Wer ist faul?« fragt sie D. J. »Ihre Koteletten sehen phantastisch aus«, sagt sie zu Nachman. »Wann strecken Sie endlich die Waffen und verraten mir das Geheimnis?«
»Hekinah degul« , erwidert der Rebbe. »Meine Schläfenlocken sind top secret.«
D. J. hat für Rain nur ein kaltes Lächeln übrig. »Guten Abend, meine Liebe.«
»Warum bringt Jahwe die Gerechten mit den Gottlosen um?« will Lemuel wissen.
»Ich bin froh, daß Sie das fragen«, sagt der Rebbe. »Weil Jahwe durch und durch aus Zufälligkeit besteht. Er hat Zufälligkeit im Blut, in den Knochen, im Kopf. Zufälligkeit ist Sein modus operandi. Wenn Er bestraft, bestraft Er zufällig, also wahllos. Daher erfahren wir erst am Ende der Story, ob Sein auserwähltes Volk am Schluß gesund und munter im Land, wo Milch und Honig fließet, leben oder mausetot in der Wüste liegen wird. Nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte, wo Jahwe auf dem Berg Sinai herumhängt, das ist
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