Der Gastprofessor
Exodus Kapitel 19. Er weist Moses an, die Juden, die unten im Glutofen der Wüste schmachten, davor zu warnen, Ihn anzuschauen, sonst müßten viele von ihnen zugrunde gehen. Okay, vielleicht hatte Er da einen schlechten Tag – Zahnschmerzen, eine Magenverstimmung, Durchfall, was weiß ich. Der Sinai war nicht gerade ein Club Med. Aber muß Er deshalb gleich ein Kapitalverbrechen daraus machen, daß jemand Ihn ansieht? Wir können nur folgern, daß Er da eine launische Phase hat. Einmal droht Er, Isaak umzubringen, ein andermal schickt Er einen Todesengel, der Jakob um die Ecke bringen soll, und bei einer dritten Gelegenheit versucht Er höchstpersönlich, Moses zu ermorden, Seinen gesalbten Stellvertreter – ich spreche von Exodus Kapitel 4, Vers 24 bis 26. Ha! Mit Jahwe auf unserer Seite, wozu brauchen wir Juden da noch Feinde? Er droht so oft, wie andere Leute furzen – einmal in die Frucht vom Baum der Erkenntnis gebissen, und es ist um dich geschehen, schau Mich an, und du trittst vor deinen Schöpfer, rühr Meine Lade an, und du kriegst einen tödlichen elektrischen Schlag. Ich spreche vom ersten Buch Chronika, Kapitel 13.« Mit schräggehaltenem Kopf rezitiert der Rebbe hingerissen den Text als eine Art Singsang: »Und sie ließen die Lade Gottes auf einem neuen Wagen führen, aus dem Hause Abi-Nadabs. Usa aber und sein Bruder trieben den Wagen. David aber und das ganze Israel spielten vor Gott her, aus ganzer Macht, mit Liedern, mit Harfen, mit Psaltern, mit Pauken, mit Cymbeln und mit Posaunen. Da sie aber kamen auf den Platz Chidon, reckte Usa« – dieser arme Teufel, das sage ich, nicht die Bibel – »seine Hand aus, die Lade zu halten; denn die Rinder schritten beiseit aus. Da erzürnte der Grimm des Herrn über Usa, und schlug ihn, daß er seine Hand hatte ausgereckt an die Lade.« Der Rebbe bebt vor Empörung. »Erwägen Sie bitte die Möglichkeit, ja, ich spiele sogar mit dem Gedanken an Wahrscheinlichkeit, daß dieser Gott unserer Väter, dieser Jahwe, geheiliget werde sein Name, einen Charakterfehler hat. Dieser Charakterfehler besteht darin, daß Er nur mit Leuten klarkommt, die Ihn fürchten. ›Dienet dem Herrn mit Furcht‹, rät uns der Psalmist, ich spreche vom 2. Psalm, Vers 11. Und wodurch erzeugt Jahwe die Gottesfurcht? Indem er unberechenbar ist, dadurch. Mit anderen Worten, indem er nach dem Zufallsprinzip straft.«
»Ich versteh, was Sie meinen«, sagt Rain. Drei Köpfe drehen sich langsam zu ihr hin. »Wenn Gott nicht nach dem Zufallsprinzip strafen würde ja? –, wenn Er nur beglaubigte Sünder oder stotternde Blondinen oder linkshändige Lesbierinnen umbrächte, wüßte jeder, wo er dran ist. Man wüßte, ob man ein potentielles Opfer ist oder nicht. Und diejenigen, die sich ausrechnen würden, daß sie keine potentiellen Opfer sind, würden Gott nicht fürchten. Ich meine, wieso auch? Wieso Gott fürchten? Wenn man kein potentielles Opfer ist? Aber weil Gott nach dem Zufallsprinzip straft, könnte jeder ein tatsächliches Opfer werden, ohne je gewußt zu haben, daß er ein potentielles Opfer ist. Und nach dem Motto ›sicher ist sicher‹« – Rains Stimme versickert allmählich – »fürchten deshalb alle Gott, hab ich nicht recht?«
»Ich hätte es vielleicht eleganter formuliert«, erklärt der Rebbe, »aber Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Er wendet sich wieder D. J. und Lemuel zu. »Furcht ist Sein Charakterfehler, Zufall ist Sein Laster, Zufall ist Sein Beiname. Jahwe hält das auserwählte Volk durch das Zufallsprinzip auf Trab. Er ist zu dem Schluß gekommen, daß es ohne jir’a, das bedeutet Gottesfurcht, keinen emuna, das bedeutet Gottesglaube, geben kann. Und wer könnte behaupten, daß er nicht recht hat?« Der Rebbe sieht Lemuel mit einem Grinsen an. »Nehmen wir zum Beispiel Sie – Sie strampeln sich ab, um den Zufall aufzustöbern, und dabei haben Sie ihn direkt vor der Nase! Suchen Sie Gott! Sela. «
»Eine eindrucksvolle Vorstellung«, bemerkt Lemuel sanft. »Aber Jahwes Zufälligkeit, angenommen, Er existiert, und angenommen, sie existiert, ist weder rein noch unverfälscht. Sie erscheint uns bloß als Zufälligkeit, weil wir nicht genug über Jahwe wissen und darüber, was in seinem Kopf vorgeht. Am Schluß wird sich Jahwes Zufälligkeit als dasselbe entpuppen wie alle Zufälligkeit – das heißt, als Pseudo-Zufälligkeit, als ein bloßer Fußabdruck des Chaos.«
Der Rebbe zuckt die Achseln, beugt sich zu D. J. und tuschelt mit ihr. Sie
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