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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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als Lemuel sie im Tender anruft und ihr von seiner Unterredung mit J. Alfred Goodacre berichtet. »Du denkst, da war kein Subtext, ja? Aber es war doch einer da.«
    Lemuel hört Herzeleid heraus, wo er freudige Überraschung erwartet hat. »Also, was war der Subtext?«
    »Hey, daß du nicht in Backwater bleiben willst, das ist der Subtext. Daß du nicht mit einer Friseuse zusammenleben willst, die in einem unteren Semester studiert und halb so alt ist wie du.« Lemuel will widersprechen, aber sie fällt ihm ins Wort. »Du bist verliebt in meinen tätowierten Schmetterling, aber für den Homo sapiens, der dazugehört, hast du nicht viel übrig.«
    »Das verstehst du falsch«, protestiert Lemuel. »Er wollte, daß ich den Bus anhalte und aus unserer Beziehung aussteige. Ich hab nein gesagt. Ich hab ihm gesagt, er soll sich ins Knie ficken.«
    »Hey, ist ja irre. Aber was willst du dann machen, wenn dein Vertrag abgelaufen ist? Wer sonst in Amerika wird schon einen Homo chaoticus einstellen, der leidenschaftlich hinter was her ist, was gar nicht existiert? Mann, bist du von allen guten Geistern verlassen?«
     
    »Lassen Sie ihr Zeit, sie wird sich schon wieder abregen«, sagt der Rebbe zu einem tief deprimierten Lemuel, als dieser in der Hoffnung, Tee und Sympathie zu bekommen, in Nachmans Büro auftaucht.
    »Stimmt das, was Goodacre sagt: Daß Sie am Ende des Schuljahrs wieder an den Eastern Parkway zurückkehren wollen?«
    »Das kam ganz plötzlich. Ich habe IBM verkauft, ich habe General Dynamics verkauft, ich habe mir ein bißchen Startkapital bei einem Dritten geborgt, für den ich gelegentlich freiberuflich etwas mache, und mit dem ganzen Geld habe ich mich in eine genossenschaftliche Talmudschule eingekauft, die demnächst an der Ecke Kingston Avenue/Eastern Parkway mitten im Herzen von Brooklyn eröffnet wird. Es soll eine Konfessionsschule ohne konfessionelle Engstirnigkeit werden. Es wird außer mir noch zwei Rebbes geben, von denen der eine Anti-Antisemitismus lehren wird, also den positiven Umgang mit dem Neuen Testament, unter Betonung der Tatsache, daß Jesus und seine Jünger Juden waren. Der andere Rebbe wird einen Überblick über die Geschichte des Martyriums geben, von der Schlange im Garten Eden, die dazu verdammt wurde, für immer auf dem Bauch zu kriechen, weil sie das Kapitalverbrechen begangen hatte, eine bestimmte Obstsorte zu empfehlen, bis zu Jesus von Natzereth, der zur Kreuzigung verdammt wurde, weil er das Kapitalverbrechen begangen hatte, sich als König der Juden auszugeben. Ich selbst werde einen Kurs mit dem Titel »Chaos und Jahwe: Zwei Seiten einer Medaille« geben. Zufällig bin ich vor kurzem auf ein erquickliches Zitat für die Beschreibung der Lehrveranstaltung im Hochglanz-Vorlesungsverzeichnis der Schule gestoßen – vielleicht kennen Sie es, vielleicht auch nicht: Es ist George Russells Warnung an den jungen James Joyce: ›Sie haben nicht genug Chaos in sich, um eine Welt zu erschaffen.« Wie finden Sie das?«
    Bevor Lemuel antworten kann, ist der Rebbe schon beim nächsten Gedanken. »Meine Zwickmühle – ich habe mich die ganze Nacht damit rumgequält und quäle mich schon den ganzen Vormittag damit rum – ist, daß ich Jahwe liebe, wie könnte es auch anders sein, aber Ihn eigentlich nicht richtig mag, geheiliget sei Sein Name. An manchen Tagen ist mir richtig übel davon. Warum, frage ich mich, kuscht der Eastern Parkway Or Hachaim Hakadosch, dessen Begierde unter anderem auf Ordnung gerichtet ist, vor einem Gott, dessen Beiname Zufälligkeit ist? Ich gestehe Ihnen, es gibt Tage, an denen ich versucht bin, den Rat von Hiobs Weib zu befolgen, ich spreche von Hiob Kapitel 2, Vers 9. Als sie dazukommt, wie ihr armer Teufel von Mann sich mit einem Scherben die Schwären schabt, spricht sie zu ihm: ›Hältst du noch fest an deiner Vollkommenheit? Fluche Gott und stirb.‹«
    »Und, was hält Sie zurück?«
    Der Rebbe wirft resigniert die Arme hoch. »Ich liebe das Leben«, gesteht er, »vor allem, wenn man die Alternative bedenkt. Außerdem gibt es ein altes jüdisches Sprichwort, das ich jetzt gleich erfinden werde. Es besagt, man solle so lange wie möglich leben, damit man möglichst kurze Zeit tot ist.«
    Eines der zwei Telefone auf dem Schreibtisch des Rebbes surrt. Er packt den Hörer, murmelt »Hekinah degul« , hört zu, zieht eine Augenbraue hoch, reicht Lemuel den Hörer. »Es ist Ihr Amanuensis«, sagt er. »Das ist Liliputanisch für weiblicher

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