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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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möglich sein, die Bahn der Träne in jedem Einzelfall zu berechnen?
    Ich fragte mich, wieso mich Axinjas Kummer so kalt ließ.
    Was war mit mir los, daß ich, statt Gefühle zu haben, immer nur ans Chaos dachte?
    Hatte ich genug Chaos in mir, um eine Welt zu erschaffen? Oder zuviel Chaos, um in dieser Welt noch leben zu können?
    Mir drehte sich der Kopf von all diesen Fragen mit schmerzlichen Antworten.
    Axinja muß gemerkt haben, daß ich mit den Gedanken woanders war. »Es hat eine Zeit gegeben, wo es dich zu Tränen gerührt hat, wenn du mich weinen gesehen hast«, sagte sie, kehrte Rain den Rücken, um ihre Gefühle zu verbergen, und betupfte sich mit einem Zipfel des Taschentuchs die Augen. »Als meine Mutter starb, mußte ich dich trösten, obwohl du sie nie kennengelernt hattest. Amerika hat dir seinen Stempel aufgeprägt, Lemuel Melorowitsch. Sogar dein Englisch klingt seltsam … eigentlich nicht wie richtiges Englisch.«
    Rain gähnte lautstark, strich sich das Haar zurück, tappte zur Spüle hinüber und fing an, unter großem Gespritze ihre Unterwäsche in einem Wännchen auszuwaschen. »Deine russische Freundin geht mir langsam auf den Geist«, sagte sie durch das Rauschen des Wasserhahns. »Ich glaube, ich würde doch nicht kollaborieren, nicht mal, wenn ihr mich darum bitten würdet.«
    »Was sagt sie?«
    »Du bist schon der zweite leibhaftige Russe, den sie kennengelernt hat«, erklärte ich matt. »Sie kann ihr Glück gar nicht fassen.«
    Axinja drehte langsam den Kopf und taxierte Rain, wie nur eine Frau eine andere Frau taxieren kann. »Ihr Arsch ist zu klein«, sagte sie auf russisch, »ihr Mund ist zu groß, und die Ohrläppchen sind komisch geformt. Hüften und Brüste sind ihr keine gewachsen, aus bestimmten Blickwinkeln sieht sie aus wie ein Junge. Was ist für dich drin? Daß sie mit dir schläft?«
    Ich dachte, sie ist für mich drin, aber der Impuls, Axinja wehzutun, war verflogen, und ich sagte es nicht laut.
    Axinja verschränkte die Arme vor der Brust, oder besser gesagt, sie legte die Arme auf ihre Brust. »Ich wette, sie hat einen G-Punkt«, sagte sie in einer plötzlichen Erleuchtung.
    »Wenn ich eine größere Verschmelzung mit einer eingehen müßte, deren Titten so hängen wie ihre«, sagte Rain von der Spüle her mit einem verkniffenen Lächeln, »tät ich den Cadillac überholen.«
    »Sie redet wie ein Wasserfall«, kommentierte Axinja gehässig. »Sagt sie mehr, als man beim bloßen Hinhören versteht?«
    »Es ist ihre Küche. Es sind ihre Eier. Es ist auch ihre Bratpfanne.«
    »Hat sie wirklich einen Cadillac?« erkundigte sich Axinja, gegen ihren Willen beeindruckt, auf russisch.
    »Sie fühlt sich nicht besonders«, erklärte ich Axinja. »Den Cadillac überholen ist Liliputanisch für kotzen.«
    »Das ist jetzt schon das zweite Mal, daß du dieses Liliputanisch erwähnst«, meinte Axinja gereizt. »Was ist das eigentlich, ein Dialekt, der im Staat New York gesprochen wird?«
    Der Himmel weiß, wie ich ihr erklärt hätte, was Liliputanisch ist, wenn wir nicht durch eine Sirene abgelenkt worden wären. Der Heulton veränderte sich, als der Wagen in die Gasse einbog, was, wie jedes Schulkind weiß, auf den Doppier-Effekt zurückzuführen ist. Axinja, die gerade am Küchenfenster stand, sah entsetzt auf das Blinklicht auf dem Dach des Polizeiautos hinunter, während dieses vor der Holztreppe hielt. Ich erinnere mich, das Raymond Chandler den Ausdruck »das Blut wich aus ihrem Gesicht« benutzt, aber bis zu dem Augenblick hatte ich dieses Phänomen nie selbst beobachtet. Ganz plötzlich so grau wie ein Bürgersteig, legte Axinja eine Hand aufs Fensterbrett, um nicht zu Boden zu sinken.
    »Das ist die Miliz«, stieß sie auf russisch hervor. »Die wollen mich als russische Spionin verhaften.«
    Ich trat ans Fenster, als die Autotür zugeschlagen wurde, und erkannte Norman, den Hilfssheriff, der weiß, wo Jerusalem liegt. Er schaute herauf und winkte. Ich hob die Hand und grüßte ihn durchs Fenster. Er kam die Treppe rauf.
    »Keine Angst«, sagte ich zu Axinja. »Das ist bloß Norman.«
    Rain ging an die Wohnungstür und kam mit Norman im Schlepptau zurück. Er kam großspurig in die Küche gestiefelt.
    Beim Klicken seiner eisenbeschlagenen Schuhe auf dem Linoleum überlief es mich kalt. Er knallte zwei Aktenordner auf den Küchentisch, bemerkte Axinja in der hintersten Ecke und nickte ihr freundlich zu.
    »Sag ihm um Gottes willen, daß ich Journalistin bin und keine

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