Der Gastprofessor
Spionin«, zischte sie mir auf russisch zu. Sie sah Norman an und lächelte verkrampft. »Einen guten Tag wünsche ich, Herr Polizist.«
»Das ist eine alte Freundin von mir aus Petersburg«, klärte ich Norman auf. »Sie will mich wegen der Atommülldeponie interviewen.«
Norman tippte an die breite Krempe seines Sheriff-Hutes. »Freunde von Le m.«
»Was soll das heißen, ›Freunde von Lem‹?« erkundigte sich Axinja auf russisch.
»Das ist so eine Angewohnheit der Amerikaner, daß sie nur einen halben Satz sagen – den Rest muß man sich dazudenken«, erklärte ich ihr. »Deswegen ist die politische Situation hier so konfus. Ich glaube, er wollte sagen, Freunde von Lemuel sind auch seine Freunde.«
Diese Erklärung stürzte Axinja in noch größere Verwirrung. »Wie kann ich eine Freundin von ihm sein, wo ich ihn gerade erst kennengelernt habe?«
Norman, der immer noch den Hut aufhatte, rückte sein Holster und sein Gemachte zurecht und setzte sich rittlings auf einen Klappstuhl. Rain stellte eine Tasse lauwarmen Kaffee vor ihm auf den Tisch. Norman kippelte mit dem Stuhl und verkündete: »Der Sheriff schickt mich.« Er wollte noch etwas sagen, aber dann trübte sich sein Blick, weil er vergessen hatte, was er ausrichten sollte. Um seine Gedächtnislücke zu verbergen, kippte er mit dem Stuhl wieder nach vorne und fing an, Zucker in seine Tasse zu schaufeln, bis sie überlief und der Kaffee in die Untertasse rann. Norman blickte auf und sah, daß wir ihn alle anschauten. Dann leuchteten seine Augen auf- ihm war wieder eingefallen, was man ihm aufgetragen hatte.
»Die hams noch nich im Radio gebracht, aber es hat schon wieder zwei Serienmorde gegeben, einen oben an der Nordgrenze von unserm Kreis, ein siemundsiebzigjähriger Weißer, der als Nachtwächter in einer Schuhfabrik gearbeitet hat, der andre zwei Stunden später in Wellsville, ein vierundvierzig Jahre alter Japaner, der in einer Tankstelle gearbeitet hat, die die ganze Nacht auf hat, und beide Opfer sind mit einem mit Knoblauch eingeriebenen Dumdum-Geschoß aus nächster Nähe ins Ohr geschossen worden, mit derselben Pistole Kaliber 38. Das erste Mal, daß wir zwei in Zeit und Ort so nah beinandere Morde haben.«
»Mein Gott«, stöhnte Rain an der Spüle. »Der verdammte Zufallsmörder hat wieder zugeschlagen.«
»Meinst du, ich sollte mich an die sowjetische Botschaft wenden?« fragte Axinja auf russisch vom Fenster her.
»Es gibt keine sowjetische Botschaft mehr«, murmelte ich auf russisch.
»Die reden in einer Fremdsprache«, erklärte Rain Norman.
»Mhm«, sagte Norman. Er wandte sich mir zu. »Der Sheriff will wissen, wie Sie weiterkommen. Die Zigeunerin in Schenectady, die Eingeweide schaut, und die blinde Rumänin in Long Branch, die Tarotkarten liest, die ham beide das Handtuch geschmissn. Sie und der abgehalfterte katholische Priester, der ein Ring über einer Landkarte baumeln läßt, ihr seid die einzigsten, die noch nach dem Täter suchen.« Norman ließ ein jungenhaftes Lächeln aufblitzen. »Abgesehn von der Polizei.«
Ich beschloß, mir »das Handtuch schmeißen« zu merken, die Bedeutung war aus dem Zusammenhang klar, und fing an, die beiden Ordner durchzublättern, die Norman mir gebracht hatte.
»Wenn Sie den Sheriff sehen«, sagte ich zu ihm, »sagen Sie ihm, daß es schon wärmer wird.«
Norman trank einen Schluck lauwarmen Kaffee, beschloß, noch mehr Zucker hineinzutun, als könnte der die Wärme ersetzen, und nahm noch einen Schluck.
»Wird schon wärmer«, wiederholte er.
»Wärmer in dem Sinne, ob die Morde zufällig sind oder nicht.«
»Mhm.«
Als Norman gegangen war, borgte ich mir Rains Harley aus, trat auf den Kickstarter und fuhr Axinja wieder in ihr Hotel draußen vor der Stadt.
»Willkommen im Kakerlaken-Motel«, sagte ich, als wir vor ihrem Bungalow hielten. »Einmal drin, nie wieder raus.«
»Du hast dich verändert«, sagte Axinja. »Früher hast du dich schweinisch benommen, aber nicht schweinisch dahergeredet.« Sie beugte sich vor und legte ihre Lippen auf meine. In Rußland wäre das als Kuß durchgegangen. »Komm heim«, flüsterte sie atemlos. »Hier bist du wie ein Fisch auf dem Trockenen.«
Ich machte ihre Arme los, so sanft ich konnte, und ging zur Harley zurück. »Ich schwimme, wann und wo ich schwimmen will.«
»Was hält dich hier?« wollte sie wissen. Ihre Stimme hatte den klagenden Ton, den das Russische gern annimmt, wenn man Fragen stellt, auf die man die Antworten schon
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