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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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kennt.
    Am nächsten Bungalow ging eine Verandalampe an, und der Orientale, dem ich im E-Z Mart begegnet war, steckte den Kopf aus der Tür. »Wenn Sie unbedingt streiten müssen«, rief er mit seinem spröden britischen Akzent, »dürfte ich dann höflichst vorschlagen, daß Sie damit bis zum Morgen warten, dann sind Sie beide munterer.«
    Ich trat auf den Kickstarter, daß die Harley unter mir in die Knie ging, und brachte den Motor auf Touren. Axinja muß ihre Frage wiederholt haben, ich sah, wie ihre Lippen die Worte »Was hält dich hier?« formten. Durch den Lärm der aufheulenden Harley gab ich ihr die Antwort. In Rußland, sagte ich unhörbar, hatte ich herumgestanden und auf gute Nachrichten gewartet. Dann hatte ich herumgestanden und auf Nachrichten gewartet. Dann hatte ich herumgestanden und auf den Tod gewartet. Im Laufe der Jahre waren meine Knöchel geschwollen. Und mein Herz auch.
    Das letzte, was ich von Axinja sah, als ich auf der Harley losfuhr, war der perplexe Ausdruck auf ihrem Gesicht, was mich vermuten ließ, daß meine Botschaft verstümmelt bei ihr angekommen war.
    Hey, Lippenlesen ist nicht so einfach. Herzlesen auch nicht.
     
    Als er in die Wohnung zurückkommt, ist der Projektor mit der malvenfarbenen Seide darüber eingeschaltet, und Rain sitzt splitternackt im Lotussitz auf dem einzigen Bett im einzigen Schlafzimmer. Er wirft einen langen Blick auf ihre Hüften, ihre Brüste, und kommt zu dem Schluß, daß alles durchaus weiblich aussieht. Rain hat eine der beiden Nachttischlampen ausgeknipst und die andere auf den Boden gestellt, zum Zeichen, daß sie sexuelle Aktivitäten erwartet.
    »Wie stehst du eigentlich zu Joghurt?« fragt sie. »In Rußland glauben alle, daß Menschen, die Joghurt essen, länger leben.«
    Rain scheint erleichtert. »Ich hab mal in einer Frauenzeitschrift gelesen, daß man keine Hefepilzinfektion bekommt, wenn man Spülungen mit Joghurt macht. Deshalb mach ich das hin und wieder.«
    Im dämmrigen Licht der Nachttischlampe auf dem Boden läßt sich Lemuel in einen verlockenden Wachtraum sinken. Der sibirische Nachtfalter unter Rains rechter Brust schwirrt mit den Flügeln, fast so, als wollte er einen Schwarm Sommersprossen vertreiben …
    »Was den Joghurt angeht«, sagt Rain mit einem halb trotzigen, halb entschuldigenden Lächeln, das Lemuel als Zeichen von Unsicherheit an ihr kennengelernt hat, »den könntest du als eine Art Mitternachts-Snack betrachten.«
    So schließt denn Lemuel von Angesicht zu Angesicht Bekanntschaft mit einem Teil der weiblichen Anatomie, dem er noch nie so nahe gekommen ist. Und dabei merkt er – irgendwann muß ihm das schon einmal widerfahren sein, er weiß nur nicht mehr, wann –, daß nicht nur die Reise, sondern auch die Ankunft ihren Reiz haben kann.
     
    Frisch rasiert, das unvermeidliche Stückchen Toilettenpapier am unvermeidlichen eingetrockneten Schnitt auf dem Kinn, die Wangen durchdringend nach Rains Rosenwasser duftend, wandert Lemuel gegen zehn Uhr vormittags die South Main Street entlang, vorbei an der Post, dem Drugstore, dem Billard-Salon, der Buchhandlung. Über Nacht sind die Fassaden der Gebäude weiß getüncht und mit psychedelischen Graffiti besprüht worden, die in makraben Details die Eroberung von Backwater durch die Marsmenschen darstellen, das Thema des diesjährigen Frühlingsfestes. Horden von Marsmenschen, die Gesichter fettig grasgrün beschmiert, die Ohren spitz zulaufend und nach hinten geklebt, die Köpfe starrend von Antennen, die an die Knochen oberhalb der Augen geklebt sind, tummeln sich auf den schmalen Pfaden des langgestreckten Hügels, der das Dorf überragt, schreien unverständliche Wörter einer erfundenen Sprache hinaus, kommen aus den Erdgeschoßfenstern der Wohnheime gesprungen und schwenken die Beutestücke eines interplanetarischen Kriegs: Slips, Büstenhalter und Unterröcke, die gestern noch Eigentum studierender weiblicher Erdlinge waren.
    Auf dem Rasen vor der Bank auf der anderen Straßenseite liest Lemuel auf der elektronischen Anzeigetafel anstelle von Uhrzeit und Temperatur einen aufmunternden Spruch: ES IST NIE ZU SPÄT FÜR EINE GLÜCKLICHE KINDHEIT.
    Lemuel macht sich keine Illusionen über die Allgemeingültigkeit dieser Behauptung. So weit seine Erinnerung zurückreicht, war es zu spät für eine Kindheit, von glücklich ganz zu schweigen. Und davor verlieren sich die Ereignisse in einem wallenden Nebel, der sich manchmal gerade lange genug lichtet, um ihm den Blick

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