Der Gastprofessor
wedelte mit ihrem obszön unbehaarten Stummelschwanz, blinzelte mit ihren vom grauen Star fast erblindeten Augen und dachte sicherlich, was sie da roch, müsse irgendeine exotische Hautkrankheit sein.
Axinja zuckte mit den Knien vor der schnorchelnden rosa Nase zurück und kreischte auf russisch: »Was ist das?«
»Eine Hündin. Sie ist sehr alt«, fügte ich hinzu, als erkläre das alles – die sackenden grauen Hautfalten am Hals, die aus dem sabbernden Maul baumelnde schwarze Zunge, die Triefaugen und die rosa Schweineschnauze.
»Alter ist keine Entschuldigung.« Axinja bemerkte einen üblen Geruch und rümpfte angeekelt die Nase.
Rain, stets auf einen Fauxpas von Mayday gefaßt, drängte das Tier von Axinjas Füßen weg. »Zisch ab, Mayday. Furz in deine Decke.«
Selbstgefällig sagte Axinja: »Sie hat das Vieh Mayday genannt.«
»So heißt es nun mal.«
»Könnte es ein, daß du dem sowjetischen Chaos entflohen bist, um hier Wohnungsgenosse einer amerikanischen Kommunistin zu werden?«
Ich lachte in mich hinein. »Der einzige Marx, den Rain kennt, ist Groucho.«
Das überzeugte Axinja nicht. »Sie hat dieses groteske Tier nach dem geheiligten Feiertag des Proletariats benannt, dem Ersten Mai.«
Als ich dieses Bonbon an Rain weitergab, kicherte sie nervös. »Hey, sie heißt nicht Mayday nach dem Feiertag, sondern nach den letzten Worten von meinem Dad. Der war doch Sergeant bei der Air Force, ja? Eines späten Abends im Januar war er auf dem Rückweg zu seinem Stützpunkt und ist mit seinem Volkswagen gegen einen Telegraphenmast geschleudert. Ich war damals die meiste Zeit alleine, weil die Freundin von meinem Vater sich mit einem subalternen Offizier von der Forresta rumgetrieben hat, und als er die einzige Nummer gewählt hat, die er auswendig wußte, bin ich ans Telefon gegangen. Er hat von einer Zelle aus angerufen, die nicht weit von der Unfallstelle stand. Er hat nur Mayday gesagt. Immer und immer wieder. Mayday. Mayday. Ich hab gedacht, er ist betrunken, und hab aufgelegt. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, was dieses Mayday heißen sollte, wenn es überhaupt was heißen sollte. Am nächsten Morgen kamen zwei Militärpolizisten und sagten mir, sie hätten meinen Vater tot in dieser Telefonzelle gefunden. Sie sagten, er war verblutet.«
Rains Geschichte, oder besser gesagt, die nüchterne Art, wie sie erzählte, raubte mir den Atem. Buchstäblich.
»Wenn du ohnmächtig wirst«, sagte Axinja besorgt, »leg den Kopf zwischen die Knie.«
In meinem Kopf hörte ich eine Kinderstimme, immer und immer wieder, die sagte: Ich hab das Code-Lexikon nicht versteckt. Zum erstenmal im Leben erkannte ich die Stimme. Es war meine eigene, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum ich abstritt, ein Code-Lexikon versteckt zu haben.
Ich nahm mir Rain vor. »Was erzählst du denn da?« zischte ich in dem wütenden Flüsterton, den Russen verwenden, wenn sie sich in ihren Gemeinschaftswohnungen streiten.
Sie flippte aus. »Der hätte ja bloß ordentliches Englisch reden brauchen wie jeder normale Mensch, dann hätte ich vielleicht kapiert, daß er irgendwie in Schwierigkeiten war.«
»Dein Vater war in einer Telefonzelle am Verbluten, und das nennst du ›irgendwie in Schwierigkeiten?«
»Also auf eins kann ich wirklich verzichten, nämlich daß du mir hier Schuldgefühle einimpfst.« Wütend versetzte sie dem Plastikmüllsack einen Tritt. »Das war alles, lange bevor ich Bobby Moran zum erstenmal einen geblasen hab, da war ich nicht nur nicht erwachsen, sondern noch nicht mal halbwüchsig. Also laß mich in Frieden, ja?«
Axinja blätterte die M-Einträge in ihrem Englisch-Russisch-Lexikon durch. »Mayhem. Mayonnaise. Maypole. Aber kein Mayday.« Sie sah auf, in der Hoffnung, Öl in unser Feuer gießen zu können. »Wahrscheinlich ist das irgendein religiöser Ritus der Indianer. Hört sich an wie etwas, was ein primitiver Mensch kurz vor seinem Tod sagen würde.«
Rain bestand darauf, daß ich ihr das übersetzte. »Mein Dad war alles andere als ein primitiver Mensch«, sagte sie mit eisiger Stimme zu Axinja.
So ging das eine endlose halbe Stunde lang weiter. Rain legte die zünftige Imitation einer Hausfrau hin und räumte das Geschirr ab, stellte es oben auf dem ohnehin schon hohen Stapel schmutzigen Geschirrs neben der Spüle, servierte koffeinfreien Kaffee und Doughnuts. Axinja fragte, ob es in der Wohnung eine Toilette gebe, und verschwand darin, nachdem ich ihr das Licht angemacht hatte. Als ich in die
Weitere Kostenlose Bücher