Der Gastprofessor
einer Krippe in Bethlehem, ist der Name Gottes.«
»Jesus, der fast mit Sicherheit nicht in Bethlehem geboren wurde – der Geschichte haben Bibelgelehrte schon längst den Teppich unter den Füßen weggezogen –, ist der Name von Gottes Sohn. Ich schnitze den Namen Gottes, Seines Vaters, der da ist im Himmel.«
Molly sieht zu, wie der Rebbe die fremdartigen Schriftzeichen in das Holz ritzt. »Mein erster Mann, er ruhe in Frieden, hat nach seinem Schlaganfall plötzlich rückwärts geschrieben. Ich mußte das Blatt vor einen Spiegel halten, um zu sehen, was er wollte.«
»Im Hebräischen«, sagt der Rebbe, »ist von rechts nach links vorwärts.«
»Sie wollen mich verkohlen.«
Der Rebbe blinzelt zu ihr hinauf. »Unterbrechen Sie mich, falls Sie das alte jüdische Sprichwort schon kennen, das ich gleich erfinden werde. Es ist die Geschichte eines Mannes, der Agnostiker und Legastheniker ist und unter Schlaflosigkeit leidet. Er liegt in der Nacht wach und denkt darüber nach, ob es einen Hund gibt.«
»Wenn das ein Witz sein soll, Rabbi Nachman, dann hab ich ihn nicht verstanden«, gibt Molly zu.
»Na, ›dog‹ , rückwärts gelesen, wird zu ›God‹.«
Molly schürzt die Lippen. »Ich kapier trotzdem nicht, was ein Hund mit Gott zu tun haben soll.«
Kopfschüttelnd schiebt sie sich durch die Schwingtüren in die Küche. Lemuel tut Zucker in beide Tassen Kaffee und rührt zerstreut den ohne um, während er den mit schlürft. »Sie wirken äußerst niedergeschlagen, Ascher. Hey, ich hoffe, es ist nichts schiefgegangen mit Ihrer Talmudschule.«
Der Rebbe, der über eine Tragödie schlimmer als der Holocaust nachdenkt, schüttelt den Kopf. »Es ist viel ernster. Es gibt da in der Thora die Stelle, wo Jahwe Abraham vors Zelt zieht und ihm den Sternhimmel zeigt. ›Zähle die Sterne‹, sagt er zu ihm. ›Also soll dein Same werden.‹ Ich spreche von Genesis 15, Vers 5. Ich las es gestern wieder einmal, und da plötzlich krachte die tragische Wahrheit wie eine Tonne Bücher auf mich herab.« Der Rebbe ringt in höchster Pein seine übergroßen rosa Pranken und blickt auf. Lemuel sieht Tränen in seinen Augen glitzern. »Verstehen Sie nicht? Die Zahl der Sterne am Himmel ist begrenzt, nicht unendlich. Das bedeutet, daß Jahwe dem Abraham sagt, er werde eine begrenzte, nicht eine unendliche Zahl von Nachkommen haben. Jahwe sagt ihm nichts anderes – mein Gott, ich könnte mich ohrfeigen dafür, daß ich das nicht schon eher begriffen habe, und noch mehr könnte ich mich dafür ohrfeigen, daß ich es jetzt begreife, denn wer möchte schon mit einer solchen Erkenntnis herumlaufen –, als daß das jüdische Volk eines Tages am Ende sein wird.«
»Hey, es entstehen doch andauernd neue Sterne aus urzeitlichen Gaswolken«, sagt Lemuel.
Der Rebbe horcht auf. »Sind Sie da ganz sicher?«
»Sicher bin ich sicher. Erst letzte Woche haben Astronomen Fotos von fünfzehn embryonalen Sternen im Orionnebel veröffentlicht. In den unendlichen Weiten des Weltraums werden jeden Tag der Woche, jede Stunde des Tages neue Sterne geboren, während andere zugrunde gehen.«
Ein Seufzer der Erleichterung entringt sich der Rabbinerbrust. »Oj, das war knapp. Ich fühle mich wie ein Verurteilter, der in letzter Sekunde begnadigt wird.«
Der Rebbe klappt sein Taschenmesser zu, glättet mit der flachen Hand einen Dollarschein, beschwert ihn mit dem kleinen Blechbehälter, in dem die Zahnstocher stehen, und stibitzt ein paar Würfel Zucker aus der Dose. »Ein Glück für die Juden, daß ich Sie heute getroffen habe«, sagt er zu Lemuel, schiebt sich seitlich aus der Bank und schlurft auf die Straße hinaus.
Lemuel hat den mit ausgetrunken und nimmt den ersten Schluck von dem lauwarmen ohne, als sich der untersetzte Orientale, der ihn wegen seines Streits mit Axinja vor dem Kakerlaken-Motel zurechtgewiesen hat, seiner Nische nähert. Er trägt einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug und einen Regenschirm in der einen und einen Aktenkoffer in der anderen Hand.
»Erlauben Sie?« fragt er mit britischem Upperclass-Akzent.
Lemuel blickt in sein Buddhagesicht hinauf. »Was soll ich erlauben?«
»Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze?«
»Hängt davon ab, was Sie mir verkaufen wollen.«
Der Orientale setzt sich auf den Platz des Rebbe und betastet die frisch eingeritzten hebräischen Buchstaben mit den Fingerspitzen, als läse er Blindenschrift. »Jahwe«, sagt er, beide Silben betonend.
»Sie sprechen Hebräisch«, wundert sich
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