Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
sich, der Schatten einer Mühle fiel auf sie, Kinderstimmen wurden laut. Die berührten augenblicklich etwas Weiches, Wundes in ihrer Brust, und vielleicht versuchte Susanna deswegen, lieber nicht hinzusehen.
Selbst die Haare auf ihrem Kopf seien gezählt, hatte der Pfarrer am Sonntag von der Kanzel gerufen, für jeden habe Gott einenguten Plan und alles sei vorherbestimmt. Vielleicht hatte der Pfarrer recht – ganz gewiss hatte er recht –, vielleicht aber wäre dennoch alles anders gekommen, wenn diese Kinderschar am Mühlbach nicht gewesen wäre.
»Bleib stehen!«, rief ein Junge. »Ich hab dich, Susanna. Wirst du wohl stehen bleiben?«
Heißer Schrecken durchzuckte Susanna, und wie festgewachsen stand sie plötzlich still. Jetzt sah sie doch hin: Am Bachufer rannte der jüngste Sohn des Schuhmachers Arnold hinter einem Mädchen her, das Susanna nicht kannte. Sie spielten Versteck. »Stehen bleiben, Susanna!« Auf der Brücke zwischen Mühle und Straße holte er sie ein und hielt sie fest. »Ich hab dich.«
Sie war gar nicht gemeint! Das Mädchen gehörte zu einer fremden Familie, die wenige Wochen zuvor aus dem hessischen Odenwald hierher nach Handschuhsheim geflohen war. Es hieß genau wie sie: Susanna.
Seltsamer Zufall. Oder vorherbestimmt?
Aus irgendeinem Grund konnte sie den Blick nicht mehr von den Kindern am Bach wenden. Wie oft hatte sie selbst in ihrer Kindheit dort gespielt. Mit Anna, mit den Nachbarkindern, mit den Cousins und Cousinen.
Ein paar Jungen und Mädchen huschten aus ihren Verstecken hinter Baumschnitt und Holzstößen, kamen zu ihr und kauerten sich hinter ihren Leiterwagen. Jetzt konnte sie gar nicht mehr weitergehen. Ein Mädchen lüpfte das Sacktuch ein wenig, das Susanna über den Leiterwagen gebreitet hatte. Susanna erkannte die Tochter des Waisenhauslehrers Bach. »Finger weg!«, zischte sie. Das Herz schlug ihr in der Kehle.
»Was hast du da drunter versteckt?«, fragte die kleine Bach.
»Eine Sichel, du Naseweis. Und einen Korb für Brennnesseln.«
Das war nur die halbe Wahrheit. Die Habseligkeiten, die Susanna für ihre unentbehrlichsten hielt, hatte sie im Korb und zu einem Bündel geschnürt unter der Sichel verstaut: Ihre beste Wäsche, ein Paar gute Schuhe, ihr Lieblingskleid, einen Wintermantel und die Bibel, die Großmutter ihr zur Konfirmation geschenkt hatte. Außerdem Feder, Tinte und das Schreibheft, dem sie seit einiger Zeit ihre Gedanken anvertraute. Und natürlich die Flöte, die der Vater ihr vor drei Jahren aus Heilbronn mitgebracht hatte, sowie Wegzehrung: Brot und Obst. Für Wasser, Käse und Fleisch wollte Hannes sorgen.
In den letzten zwei Wochen hatte sie die Sachen nach und nach unter einer losen Diele im Schuppen versteckt und heute im Morgengrauen auf den Leiterwagen gepackt.
»Wohin gehst du denn?«, wollte das neugierige Mädchen wissen. Spürte es etwa ihre Angst?
»Ich geh hinaus zum Heidelberger Tor. Brennnesseln schneiden am Dorfgraben.«
Das hatte Susanna auch am Morgen in der Küche der Großmutter erklärt, und die Hitze war ihr dabei ins Gesicht gestiegen. Die Großmutter aber hatte es nicht gesehen – es war wohl noch zu dunkel gewesen – und lieber das Feuer geschürt, statt nachzufragen. Sie brauchte ja Brennnesseln für ihren Nierentee, und der Großvater hatte sich angewöhnt, die schmerzenden Knie beinahe täglich mit Brennnesseln zu peitschen.
Weil die neugierige Lehrerstochter sich auf den Knien aufgerichtet hatte, entdeckte sie der Schusterjunge, der suchen musste. Er rannte herbei, die Entdeckten gaben ihr Versteck auf und flohen.
Susanna erschrak: Schon viel zu lange stand sie hier am Bach vor der Mühle. Womöglich suchte man längst nach ihr. Sie wandte sich ab, hatte es jetzt eilig, ihren Karren weiter die Mühltalstraße hinunter zu ziehen. Bleib stehen, Susanna , gellte es in ihren Ohren, obwohl kein Kind mehr rief. Ich hab dich! Die Räder ratterten über eingetrocknete Wagenspuren, Pferdeäpfel und Steine; Tränen rannen über Susannas Wangen.
Abschied. Für immer.
Wo würden denn ihre Kinder eines Tages Verstecken spielen? Unvorstellbar, dass sie es nicht hier am Mühlbach tun sollten. Und mit wem würden ihre Kinder denn spielen? Undenkbar, dass sie es nicht mit den Söhnen und Töchtern ihrer Altersgenossen hier in Handschuhsheim tun würden. Und dennoch wollte sie weg, wollte mit Hannes fortgehen, wollte es um jeden Preis.
Ihr war, als würde ihre Kindheit und Jugend jetzt erst enden, genau hier und jetzt,
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