Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
während dieser bleiernen Schritte die Mühltalstraße hinunter Richtung Heidelberger Tor.
Links, im Hof zwischen der neuen Mühle und dem Wohnhaus, sah sie auch die Familie des Müllers ihr Hab und Gut auf einem Ochsenkarren verstauen. Rechts ragte die Tiefburg hinter den Dächern auf. Saatkrähen umschwirrten den klotzigen Turm.
In einem Obstgarten links schob der Uhrmacher Merkel die Leiter in eine Apfelbaumkrone, deren Geäst sich unter der Last schwerer Boskopäpfel bog. Zwei Gärten weiter machte sich ein krummes altes Ehepaar daran, die letzten Rüben auszugraben, Adam und Otilie Beysel.
Beide rochen gewöhnlich nach Kuhstall, und an warmen Abenden pflegten sie mit den Großeltern auf der Bank vor dem Beysel- oder dem Almut-Haus zu sitzen. Noch bis vor wenigen Jahren hatte Susanna den Geschichten Otilie Beysels gelauscht, wenn sie zu ihr auf den Hof ging, um frisch geschorene Wolle zu holen. Niemand konnte erzählen wie die alte Bäuerin.
Am lauteren Rattern der Wagenräder merkte Susanna, dass sie hastete. Sie wischte sich die Tränen ab und lief langsamer. Jetzt nur keinen Fehler machen!
Jugendliche überholten sie im Laufschritt, zwei Jungen waren darunter, mit denen hatte sie vor fünf Jahren Konfirmation gefeiert. Wen würden die heiraten? Wie viele Kinder würden ihre Frauen bekommen? Was hatte der allmächtige Gott für sie vorherbestimmt? »Ich werde es niemals erfahren«, murmelte sie erschrocken. »Kann das denn wahr sein? …«
Die Tiefburg blieb zurück, das Ende der Mühltalstraße und die Einmündung der Dossenheimer Landstraße rückten näher. Dorthin eilten auch die jungen Leute, die sie überholt hatten. Vielleicht zum Rathaus. Was hatten sie dort zu tun?
Susanna wollte zur Landstraße nach Heidelberg. Doch nicht bis zum Tor – sie wollte vorher nach Osten in den Kehrweg abbiegen und dann über das Heiligengässel in den Wald und zum Heiligenberg hinaufgehen.
Neben dem Abschiedsschmerz und dem schlechten Gewissen plagte sie die Angst, sie könnte auf dem Weg über den Berg spanischen Soldaten in die Arme laufen. In der letzten Zeit tauchten doch überall Rotten dieser schlimmen Reiter auf. Deswegen hatte sie sich auch endlich entschieden, nach Ziegelhausen hinüberzugehen, zur alten Abtei Neuburg, wo Hannes wartete.
Geliebter Hannes, ich komme!
Ja, sie hatte sich doch noch auf den Weg gemacht, aber es hatte einen langen Anlauf gebraucht bis zum Aufbruch an diesem Morgen, länger als drei Wochen. Zweimal hatte sie den Friedrich ohne Nachricht an Hannes fortgeschickt, weil es hieß, der Graf Mansfeld käme den Rhein herauf, um General Córdobas Spanier von den Toren und Mauern Frankenthals wegzujagen. So schlimm wie Hannes meinte, konnte es also doch nicht werden mit dem Krieg, hatte sie gedacht.
Und dann hatte der Vater das starke Heer des Herzogs von Halberstadt so lauthals gelobt, wie er sonst nur »Ein feste Burg ist unser Gott« sang. Und ein Schreinergeselle, der von seiner Wanderschaft aus dem Norden nach Handschuhsheim zurückgekehrt war, berichtete vom großen Kriegsvolk des verbündeten dänischen Königs und dass dessen Vorhut schon nahe bei Frankfurt in der Landgrafschaft Hessen stünde.
Und als dann auch noch der berühmte Obrist Michael von Obentraut die Städte Bensheim, Weinheim und Heppenheim von den Spaniern zurückerobert hatte, klangen sie auf einmal wiedersehr zuversichtlich, die Männer von Handschuhsheim; und die englischen Soldaten in Mannheim und Heidelberg zweifelten sowieso nicht an einem Sieg über die Papisten, wie man immer wieder hörte.
Also doch nicht weggehen müssen wie ein Dieb in der Nacht; doch nicht die Wurzeln aus dem heimatlichen Boden reißen; doch nicht alles hinter sich lassen müssen, was ihr lieb und teuer und so sehr ans Herz gewachsen war, dass Susanna zu sterben glaubte, wenn sie nur daran dachte, all das hinter sich zu lassen. Wieder und wieder hatte sie Hoffnung geschöpft.
Bis der Graf Mansfeld dann tatsächlich vor Frankenthal auftauchte, und der General Córdoba die Belagerung abbrach und vor dem kühnsten und stärksten aller evangelischen Feldherren floh. Doch das galt nur ein paar Tage lang als gute Nachricht. Bald nämlich tauchten wieder spanische Reiterhorden diesseits des Rheins auf. Sie hatten Hunger und Durst und nichts mehr zu tun. Und wieder starben Kaufleute auf dem Weg nach Heidelberg, wieder verbluteten Bauern auf den Feldern, wieder verschwanden Frauen und Mädchen, wieder brannten kleine Weiler oben im
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