Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
Odenwald. Und bald sah man wilde Reiter nahe Schriesheim nach Beute spähen, und vor kurzem sogar schon zwischen Dossenheim und Handschuhsheim.
Alle bekamen es mit der Angst zu tun, und als der Friedrich Stein vor vier Tagen das letzte Mal in diesem Jahr mit einer Ladung Feuerholz, Mostobst und Schafswolle ins Dorf fuhr, gab Susanna ihm heimlich einen Brief an Hannes mit, in dem sie den Tag festlegte, an dem er im Kloster Neuburg auf sie warten sollte.
Und jetzt war der Tag gekommen. Heute musste es geschehen.
Ungeheuerlich erschien ihr auf einmal, was sie sich vorgenommen hatte. Doch heute würde sie es tun. Angst und Schuldgefühl engten ihr Brust und Kehle ein. Doch heute würde sie es zu Ende bringen. Hinter ihr holperten die Räder des Leiterwagens über dieletzte Wegstrecke der Mühltalstraße, und ihr Lärm übertönte das Getrommel hinter ihrem Brustbein. Gut so.
Haustüren und Hoftore wurden aufgestoßen, Kinder, Männer und Frauen liefen heraus und eilten zum Ende der Mühltalstraße, wo schon die jungen Leute verschwunden waren, die Susanna überholt hatten. Als sie selbst dort ankam und die Dossenheimer Landstraße überqueren wollte, sah sie auf der rechten Seite vor dem Rathaus eine Menschentraube aus bestimmt dreißig Handschuhsheimern. Und es wurden immer mehr.
Susanna blieb stehen, machte kehrt und zog ihren Karren ein Stück Richtung Rathaus. In keinem der kleinen Läden in den Fassadennischen dort verkaufte noch jemand Brot oder Fleisch, und keiner wartete davor, um zu kaufen. Alle hatten sich vor dem Eingang versammelt, tuschelten, schimpften, scharrten mit den Füßen und begafften zwei Männer, die dort mit Hälsen und Handgelenken in eine Doppelgeige eingeklemmt waren, ein breites, langes Brett mit den ausgesägten Löchern für Kopf und Glieder. Es hing zwischen zwei wuchtigen Vierkantsäulen aus Eichenholz, und zwar so niedrig, dass die beiden geplagten Männer sich mächtig bücken mussten.
Der Pranger von Handschuhsheim.
Schuld wurde hier gesühnt, und das zog auch Susanna an. Sie ging von der Seite so nahe an die Menschenmenge heran, dass sie die Schrift auf den Schildern lesen konnte, die man den Männern – einem Handschuhsheimer Maurer und seinem Sohn – um die Hälse gehängt hatte. Ich bin verbotene Wege gegangen , las sie, und es fuhr ihr in die Eingeweide.
Der Schultheiß stand auf der Vortreppe des Rathauses, der Feldschütz und sein Gehilfe unter ihm neben der Doppelgeige. Der Feldschütz berichtete mit lauter Stimme, wo er und sein Gehilfe die beiden Männer aufgegriffen hatten: Oben in den Weingärten mit den späten Trauben, auf Wegen, die durch Schilder als verbotene ausgewiesen waren.
»Nur Pack, das die Gebote unseres Gottes vergessen hat, treibt sich vor der Weinlese dort oben herum!«, rief der Feldschütz. »Um zu rauben, womit Gottes Segen die harte Arbeit frommer Leute belohnt hat.«
Die Männer hatten Weintrauben gestohlen, ganze Körbe voll. Wütende Rufe aus der Menge wurden laut, faules Fallobst flog und klatschte zwischen die Köpfe der Diebe gegen die Doppelgeige. Susanna wandte sich ab und hastete davon.
Verbotene Wege …
Und sie selbst? Ging nicht auch sie einen verbotenen Weg? Wie ein glühendes Eisen bohrte das Schuldgefühl plötzlich in ihrer Brust. Einfach weggehen, ohne Abschied – war das etwa erlaubt? Einfach der Stimme gehorchen, die tief in ihrem Herzen wisperte, die ihr Tag für Tag und Nacht für Nacht flüsterte: Geh zu deinem Hannes, fliehe mit ihm, damit du mit ihm leben kannst. Durfte man das?
Bleib stehen, Susanna , ich hab dich …
Statt geradeaus und zur Einmündung der Landstraße nach Heidelberg trugen ihre Füße sie nach rechts über die Dossenheimer Landstraße und dann nach links in die Mittlere Kirchgasse und schließlich über die untere Kirchgasse bis zur Vituskirche. Vor dem Eingang ließ sie den Leiterwagen allein.
Was hast du hier verloren , raunte jene Stimme, dein Hannes wartet doch. Und eine andere antwortete: Noch einmal in die geliebte Kirche gehen, noch einmal dort beten, wo wir jeden Sonntag gebetet haben; nur ganz kurz auch dort Abschied nehmen, gar nicht lang.
Auf einmal kniete Susanna in der vordersten Bank unter der Kanzel, wusste kaum, wie sie dahin gelangt war. Sie betete, versuchte es wenigstens. Immer nur wenige Gebetsworte kamen ihr über die Lippen, ohne jede Inbrunst, und immer wieder unterbrach sie sich und lauschte den Stimmen in ihrem Inneren.
»Hast du es nicht in der Bibel gelesen?«,
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