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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Whalen Turner
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Dieb von Eddis leiden zu sehen. Denn er litt unbestreitbar. Am Anfang hatte der junge König die mehr oder minder spitzfindigen attolischen Beleidigungen und herablassenden Bemerkungen mit heimlichen eigenen Scherzen beantwortet. Weil die Attolier glaubten, nur sie selbst verfügten über Feinsinn, waren ihnen seine Gegenschläge völlig entgangen; seine schneidenderen Erwiderungen hatten sie als Zufälle abgetan. Ornon hatte sich mehr als einmal auf die Zunge gebissen. Er war bereit, zuzugeben  – wenn auch nur vor sich selbst  –, dass es ein Fehler gewesen war, bei diesen Anlässen den König strafend anzusehen. Das hatte Eugenides nicht nur umso mehr angestachelt, sondern zugleich die Attolier davon überzeugt, dass der eddisische Botschafter am attolischen Hof dem König wenig Respekt entgegenbrachte, was ihre Verachtung nur noch steigerte.
     
    Die Attolier täuschten sich. Ornon brachte dem Dieb von Eddis den äußersten Respekt entgegen, ganz so, wie er auch Respekt vor einer Schwertschneide hatte. Er fragte sich, wie Eugenides nach Ansicht der Attolier hatte König werden können, wenn er tatsächlich der Dummkopf gewesen wäre, für den sie ihn hielten. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn nie als den Dieb erlebt hatten, den Kopf zurückgeworfen und ein Funkeln in den Augen, bei dem sich einem die Nackenhaare sträubten. Die Attolier sahen nur den neuen, verlegenen König. Ornon fragte sich ja selbst, was aus dem Dieb geworden war. Er hatte seit der Hochzeit an Eugenides keine Spur mehr von jener Gestalt bemerkt.
    Auch das mochte sein Fehler sein. Er hatte Eugenides geraten, sich zu zügeln und seine Zunge zu hüten. Er hatte gewusst, wie sehr es dem Dieb widerstreben würde, diese Aufgaben wahrzunehmen, und er hatte sich darauf gefreut, Eugenides’ Übermut gedämpft und seine Scharfzüngigkeit gemildert zu sehen.
    Ornon hatte aber nicht gewollt, dass man den König als jemanden wahrnahm, der eine Kränkung nach der anderen schluckte, als hätte er keinerlei Rückgrat. Als zehnjähriger Junge war der Dieb von Eddis imstande gewesen, einen erwachsenen Mann mit nur einem Blick zu zwingen, stocksteif stehen zu bleiben. Wohin war dieser Blick verschwunden? Ornon befürchtete, dass Eugenides’ Rolle als Dieb ein wesentlicher Bestandteil seines Selbstbewusstseins und seiner Willensstärke gewesen war. Vielleicht hatte er nun, da er Eddis endgültig verlassen hatte, beides verloren. Wenn ja, dann verhieß das nichts Gutes für das Königreich Attolia.
    Die Attolier glaubten nur, einen schwachen König zu wollen. Ein schwacher König bedeutete Ungewissheit. Wenn der König nicht über die Macht im Lande verfügte, würden allerlei andere Leute darum ringen, für ihn darüber zu verfügen. Sie würden um die Macht kämpfen  – und darum, an der Macht zu bleiben. Einige dieser Kämpfe würden öffentlich stattfinden, als Aufstände oder Bürgerkriege; ein größerer Teil des Ringens würde heimlich ablaufen, in Form von Giftmorden und politischen Attentaten. Wenn die Königin die Macht nicht in der Hand behielt, stand ihrer Nation eine hässliche Zukunft bevor.
    Ornon sah die Königin an. Vielleicht würde sie weiter als Herrscherin regieren. Niemand hätte je damit gerechnet, welche Machtfülle sie erringen würde, als sie den Thron bestiegen hatte. Sie würde den Thron vielleicht weiterhin aus eigener Kraft halten können, aber Ornon vermutete, dass sie mit ihren Mitteln am Ende war. Sie hatte ihren aufrührerischen Baronen Einhalt geboten und sie gezwungen, sich ihrer Autorität zu beugen, aber das Meder-Reich wollte dieses kleine Land  – und auch Eddis und Sounis. Attolia konnte nicht zugleich ihre Barone in Schach halten und das Meder-Reich abwehren. Sie hatte die Meder einmal vertrieben und den medischen Gesandten blamiert. Diese
Blamage würde den Gesandten, Nahuseresh, schwächen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er und sein Bruder, der künftige Kaiser, zurückkehren würden, um diese Küste des Mittleren Meeres anzugreifen. Niemand, der auch nur ein wenig vorausschauend war, bezweifelte, dass die Meder früher oder später zurückkehren würden.
    Wenn sie es taten, würde der Staat Attolia ihnen vereint entgegentreten müssen. Die Königin konnte ihren Baronen zwar Befehle erteilen, sie aber nicht einen. Mit zu vielen ihrer Barone verband sie eine blutige Vorgeschichte. Aus demselben Grund hätte auch keiner der Barone König werden können. Sie brauchten eine neutrale Person auf

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