Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
Vom Netzwerk:
Konservendosen gegessen und Kognak aus der Flasche getrunken wurde. Und diese, fremde, von Oleg erwünschte, für Dick freilich unnütze Welt ließ Thomas ein wenig von ihnen abrücken. Denn in Wirklichkeit gehörte Thomas zu jenen Leuten, die bereits tot waren oder an ihrem Lebensende standen. Für sie symbolisierten der Wald und die Gletscher eine Sackgasse und Ausweglosigkeit, für Oleg hingegen, noch viel mehr aber für Dick, bedeuteten sie den einzigen angestammten Platz im ganzen Universum.
„Gehen wir“, sagte Thomas und erhob sich. „Jetzt bin ich fast überzeugt, daß wir’s schaffen, auch wenn die schwierigste Wegstrecke noch vor uns liegt.“
Sie marschierten weiter. Marjana hielt sich Dicks Nähe auf, denn sie fürchtete, ihm könnte noch schlecht sein. Sie hatte die Eigenschaft, alle und jeden zu bemitleiden. Mitunter fand Oleg das rührend, diesmal jedoch ärgerte es ihn. Man sah schließlich auf den ersten Blick, daß Dick in bester Verfassung war. Lediglich seine Augen glänzten, und er sprach lauter als gewöhnlich.
„Das ist gewissermaßen eine Tür“, sagte Thomas, der neben Oleg ging. „Eine Tür, hinter der meine Erinnerungen beginnen. Verstehst du das?“
„Ja“, sagte Oleg.
„Bis jetzt existierte alles nur in meiner Vorstellung“, fuhr Thomas fort. „Ich hatte diesen Gebirgspaß völlig vergessen. Deine Mutter trug dich auf den Armen. Sie war schon ganz von Kräften, überließ dich aber keinem anderen. Du warst sehr still. Dick dagegen brüllte, wie es sich für einen hungrigen und unglücklichen Säugling gehörte. Wirklich, du hast keinen Laut von dir gegeben. Und Egli war ständig um deine Mutter herum, beide waren höchstens fünfundzwanzig, fast noch Mädchen und schon lange befreundet. Egli wollte immerzu überprüfen, ob du noch am Leben bist, doch deine Mutter ließ das nicht zu. Ihr war nichts geblieben außer dir. Sie klammerte sich an dich.“
Thomas wurde plötzlich von heftigem Husten geschüttelt. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser, stützte sich mit der Hand gegen eine Stein, und Oleg bemerkte, wie gelb und dünn seine Finger waren. Dick und Marjana waren schon vorausgegangen und hinter einer Wegbiegung verschwunden.
„Geben Sie Ihren Sack her, ich trage ihn“, sagte Oleg schuldbewußt.
„Nicht nötig, es geht gleich vorüber. Warte, gleich …“ Thomas lächelte schuldbewußt. „Eigentlich müßte ich euch Jungen ja mit gutem Beispiel vorangehen, euch führen, statt dessen schleppe ich mich nur so dahin … Ich glaubte, es würde besser werden, wenn ich von dem Kognak trinke. Wie naiv …“
„Nehmen Sie doch noch einen Schluck“, schlug Oleg vor.
„Das nützt nichts, ich bin’s nicht mehr gewöhnt. Außerdem hab ich Temperatur. Ach, wenn wir den Gebirgspaß doch erreichen würden. Ich müßte ins Krankenhaus, brauchte Ruhe und Behandlung statt heldenhafter Bergbesteigungen.“
Nach zwei Stunden hatten sie die Schlucht hinter sich gebracht. Der Bach stürzte jetzt als kleiner Wasserfall von einem etwa zwei Meter hohen Felsen herab. Ihn zu erklimmen, war jedoch schwierig. Thomas war so von Kräften, daß sie ihn buchstäblich hinaufziehen mußten. Die Ziege wurde am Seil hochgezerrt, und es grenzte fast an ein Wunder, daß niemand verletzt wurde, als das verängstigte Tier mit den spitzen, hart gepanzerten Hufen dabei wild um sich schlug.
Es war schon eine seltsame Empfindung: Mehrere Stunden lang waren sie die enge, halbdunkle Schlucht emporgeklommen, hatten nur das Rauschen des Wassers vernommen, plötzlich jedoch standen sie im Banne von so viel Raum und Weite, wie es Oleg noch nie gesehen hatte.
Die schneebedeckte, hier und da das Gestein freigebende Hochebene erstreckte sich über mehrere Kilometer und stieß gegen eine Gebirgswand. Hinter ihnen dagegen fiel sie als endloser steiler Hang ab und verlor sich in einem breiten Tal, das zunächst kahl und steinig, danach aber von Gebüsch– und Baumtupfen bedeckt war. Erst zum Horizont hin ging das Grün ineinander über und verschmolz zu dichtem, unübersehbarem Wald. Dort, drei Tage Wegstrecke von ihnen entfernt, lag auch die Siedlung, die man von dieser Stelle aus freilich nicht sehen konnte.
„Hier“, sagte Thomas, noch immer nach Luft ringend, „hier begriffen wir, daß wir gerettet waren. Wir kamen von den Bergen, doch was heißt kamen, wir krochen, zogen, selber halb erfroren, die Kranken hinter uns her, glaubten schon an nichts mehr und gelangten urplötzlich an den Rand dieser Hochebene.

Weitere Kostenlose Bücher