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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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davon erlösen können. Sie musste alles ertragen. Es gab keinen Ausweg.
    Einmal vernahm ich aus dem Kopf eines Mannes in meinem Alter, dass er höchstens noch ein halbes Jahr zu leben haben würde. Er wirkte nach außen völlig normal und ruhig, in seinem Inneren aber tobten Angst und Verzweiflung. Er hatte einen Gehirntumor, würde Frau und drei Kinder hinterlassen. Ich fand ihn sehr nett, doch meine Versuche, ihn vorsichtig auf sein Befinden anzusprechen, scheiterten kläglich. Wir redeten drei Stunden über Belanglosigkeiten, über Autos, Bars, Frauen, Politik; währenddessen hörte ich die Hilfeschreie aus seinem Kopf und konnte nichts tun. Und selbst wenn ich mit ihm über seine Angst hätte sprechen können - welche Worte wären die richtigen gewesen? Welchen Trost hätte es für ihn gegeben?
    Ein andermal belauschte ich heimlich einen alten Mann. Ich hatte mich zufällig zu ihm auf eine Bank in einem Einkaufszentrum gesetzt. Wir grüßten uns kurz, führten aber kein Gespräch miteinander. Er war im Krieg gewesen. Zweiter Weltkrieg, Ostfront, russische Gefangenschaft. So viele Kriegsgedanken in seinem Kopf. Und das nach all den Jahren. Zerschossene Gesichter. Verstümmelte Leichen. Blut im Schnee. Wie er von russischen Soldaten gefoltert wurde. Seine frostverbeulten und eiternden Füße. Immerzu das Wort »Hunger« - und dann der Satz: »Wäre ich damals doch bloß auch gefallen.«
    Den Gedanken einer jungen Frau hörte ich einmal zwangsläufig zu. Ich stand in einer langen Warteschlange vor einer Supermarktkasse. Es ging nur schleppend voran. Vor meinem Hintermann war ich durch einen überdimensionalen Einkaufswagen geschützt, der sich zwischen uns befand. Der jungen Frau vor mir allerdings kam ich ganz nahe, da ich keine Pufferzone vor mir herschob. Meine Einkäufe hielt ich in den Händen. Ein Ausweichen zur Seite war auch nicht möglich, da der Gang äußerst schmal war. So stand ich also da, bewegte mich ab und zu im Schneckentempo nach vorn und erfuhr viel Trauriges über die junge Frau. Sie hatte ein schwer krankes Kind, Laura. Laura lag in einem Kinderhospiz und schien eine Kämpfernatur zu sein. Die junge Frau wiederholte in Gedanken mehrmals einen Satz, den ihre kleine Tochter offensichtlich zu ihr gesagt hatte: »Mama, ich will noch nicht zu Oma in den Himmel, weil du es dann ohne mich hier so schwer hast und immer weinen musst.« Vor kurzem hatte Laura im Hospiz ihren elften Geburtstag gefeiert. Es war schön und herzzerreißend zugleich gewesen. All die dem Tode geweihten Kinder, wie sie für Laura gesungen hatten. Sie war nur noch Haut und Knochen, blass und so zerbrechlich. Woran sie litt, konnte ich nicht heraushören. Und dann betete die junge Frau in Gedanken, einige Meter vor der Registrierkasse: »Lieber Gott, schenke ihr noch ein paar gute Tage. Lieber Gott, gib mir Kraft, damit ich ihr Kraft geben kann.
    Lieber Gott ... und wenn es so weit ist, lass sie schnell und friedlich sterben, nimm ihr die Angst, nimm ihr alle Angst.«
     

    Hörte ich derart Erschütterndes, kamen mir die Lügen und Eitelkeiten der anderen Leute noch absurder und widerlicher vor. Überhaupt die Lügen. Sie machten mir so sehr zu schaffen. Im Grunde schon, seit ich Anna auf die Schliche gekommen war. Meine Zeit im Nachtleben hatte mir ein weiteres Mal gezeigt, wie lügenverseucht die menschliche Seele ist. Eine bittere Erkenntnis. Ich hatte mittlerweile in so viele Gehirne hineingehorcht, und mein Urteil stand fest:
    Die Ehrlichen und Aufrichtigen sind so selten wie Diamanten.
     

    Die meisten Menschen hatten einen fragwürdigen Kern. Sie waren getrieben von Eigensucht, Gier, Geiz, Neid und Niedertracht. Eigenschaften, die ich von mir selbst ja auch kannte. Mehr oder weniger ausgeprägt. Mehr oder weniger stark ausgelebt. Und je klarer ich das Schlechte in den anderen Menschen sah, desto mehr schämte ich mich für meine eigenen dunklen Seiten. Ich begann zu ahnen, wie viel Kraft, Disziplin und Strenge vonnöten sind, sich selbst zu überwinden, sich selbst richtig zu führen, das Selbst von den eigenen Schatten zu befreien.
    Während meiner vielen heimlichen Beobachtungen war mir noch etwas aufgefallen, was ich früher niemals geahnt, geschweige denn gedacht hätte:
    Mehr als alle anderen belügt der Mensch sich selbst.
    Und auch in diesem Punkt musste ich mir an die eigene Nase fassen. Ließ ich die vergangenen Jahre Revue passieren, so fielen mir erschreckend viele Situationen ein, in denen ich mir die

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