Der Gedankenleser
Wahrheit nach meinem Geschmack zurechtgebogen hatte. Oftmals war ich mir dessen gar nicht bewusst gewesen. Oftmals aber hatte ich den Selbstbetrug durchaus geahnt, ein schales Gefühl gespürt, dies jedoch sofort beiseitegeschoben und war wieder zur Tagesordnung übergegangen. Aus reiner Bequemlichkeit.
All dies im Kopf, fühlte ich mich immer elender.
Warum hatte die Natur beim Erschaffen des Homo sapiens so viele Fehler gemacht?
Ich kam aus dem Grübeln gar nicht mehr heraus und musste mir schließlich eingestehen, dass mir die nächtlichen Ausflüge den Rest gegeben hatten.
Ich war der Menschen endgültig überdrüssig geworden.
Vielleicht sogar der Welt - in der ich mir mittlerweile vorkam wie ein Irrlicht. Ich fühlte mich ohne Heimat, fremd überall, war scheu und misstrauisch. Immer wieder strich mir eine Rilke-Zeile durch den Kopf:
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wieder stand ich vor den grundsätzlichen Fragen: Wie geht es weiter? Was ist zu tun? Wie willst du leben?
Ich war ratlos.
Ein Fluch lag auf mir, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Ich hatte mit allem, was mir einmal wichtig gewesen war, bewusst gebrochen. Und nun stand ich ganz allein in der Welt.
Während meiner letzten Besuche im La Cage oder im Empire verhielt ich mich so wie in den ersten Wochen meiner nächtlichen Streifzüge. Ich blieb allein, soweit das irgendwie möglich war. Doch diesmal steckte mein Widerwille dahinter. Ich fühlte mich wie weidwund und wollte mich vor der Stimme schützen. Jedes Wort, jeder Satz von ihr war zu viel. Jeder fremde Gedanke tat weh, und immer stärker hatte ich den Eindruck, als würden mich die Abgründe der anderen, in die ich ja zwangsläufig hineinsehen musste, aufsaugen wollen.
Also stand ich allein an den Theken, trank, rauchte und hoffte, dass die Zeit herumging. So aber durfte man nicht leben. Das war mir nach knapp einer Woche klar. Es musste etwas geschehen.
Die Idee, die mir dann kam, überzeugte mich sofort.
Das war die Lösung! Zumindest vorläufig. In die ferne Zukunft hinein wollte ich ohnehin nicht mehr denken und spekulieren. Das hatte ich früher viel zu oft getan. Es ging um das Jetzt, um die Gegenwart.
Wo würde ich mich vor den Gedanken der Menschen am besten schützen können?
In der Einsamkeit. Ja.
Und in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht einmal ansatzweise beherrschte.
Genau das war es!
Was hielt mich in meiner Stadt? Was hielt mich noch in Deutschland?
Gar nichts.
Ich war frei und verfügte über ausreichende finanzielle Mittel.
Welch ein Luxus - welch eine Chance.
»Geh fort, geh!«, sagte eine innere Stimme zu mir. »So schnell wie möglich, geh!«
Aber wohin sollte ich gehen? Mein Gespräch mit dem Volontär Sebastian fiel mir wieder ein. Auf seine Frage »Könnten Sie sich vorstellen, in Australien zu leben?« hatte ich damals ganz spontan geantwortet: »Ja - oder auch in Skandinavien.«
Australien kam nun wegen der Sprache nicht in Betracht. Aber Skandinavien. Genauer gesagt: Finnland. Die Sprache dort war mir absolut fremd. Ich konnte kein Wort Finnisch. Während meiner früheren Reisen durch Finnland hatte ich mir nie auch nur ein einziges Wort merken können, und ich war sicher, dass mir diese komplizierte Sprache für immer verschlossen bleiben würde. Also ein idealer Ort für mich. Ich könnte mit den Menschen das Nötigste in Englisch kommunizieren, ihre Gedanken wären für mich unergründlich, da unverständlich, und ich würde mich in diesem dünn besiedelten und so naturschönen Land sicher bestens zurückziehen können.
Meine Entscheidung stand fest.
Die nächste Zeit meines Lebens wollte ich in Finnland verbringen. Genauer gesagt in Nord-Finnland, denn diese Region des großen Wald- und Seenlandes hatte ich schon oft bereist und war von ihr besonders beeindruckt gewesen.
Ein paar Wochen strichen noch ins Land. Die brauchte ich auch, um meine Reise vorzubereiten. Es galt, einige finanzielle Dinge zu regeln, ich deckte mich reichlich mit Lektüre über Finnland ein, erledigte diverse Einkäufe und machte mein Auto fit. Denn mir war schnell klargeworden, dass ich mein Ziel nicht per Flugzeug erreichen wollte. Die lange Fahrt in den Norden Finnlands sollte mich allmählich auf mein neues Leben einstimmen.
Nachts ging ich nicht mehr aus. Warum auch? Ich zog mich jeden Abend früh in mein Hotelzimmer zurück, las, schlief viel und trank kaum mehr Alkohol.
Als alles vorbereitet war, brach ich
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