Der Gedankenleser
allerdings nicht sofort auf.
Es gab eine Sache, die hielt mich zurück. Die musste noch ihren Abschluss finden. Daran führte kein Weg vorbei. Erst dann würde ich meine große Reise antreten können. Wie gebannt starrte ich jeden Morgen in mein kleines Fach an der Hotelrezeption. Ich erwartete Post. Und zwar den Termin für meine Scheidung von Anna.
Wie lästig mir diese Prozedur war. Würde sie mich doch noch einmal und mit Gewalt an meine Vergangenheit erinnern, mit der ich nichts mehr zu tun haben wollte - und ich würde auf Anna treffen. Was mir sehr gegen den Strich ging.
Endlich, nach zwei weiteren Wochen, war es so weit.
Als der Richter uns fragte: »Halten Sie die Ehe für gescheitert?«, bejahte ich klar und deutlich. Anna hingegen zögerte ein paar Sekunden, ich erschrak, sie schaute mich von der Seite an, senkte dann aber ihren Blick zu Boden und antwortete mit dünner Stimme: »Ja, sie ist gescheitert.«
Vor dem Gerichtsgebäude gaben wir uns die Hand. Ich sagte: »Adieu«, und sie: »Es war ja nicht alles schlecht.« Danach trennten sich unsere Wege.
Schon am nächsten Morgen, gegen sechs Uhr, saß ich in meinem Auto. Vor mir lagen zirka zweieinhalbtausend Kilometer.
18
Die Endstation meiner langen Fahrt war ein winziger Ort im Norden von Finnisch-Lappland. Weit oberhalb des Polarkreises. Ich hatte ihn angesteuert, weil er mir von früheren Reisen besonders im Gedächtnis geblieben war. Er lag an einem weit verzweigten See, war umgeben von ausgedehnten Wäldern, Mooren und schier endlos erscheinenden Tundraflächen. Die Vielfalt der Natur und das Landschaftsbild hatten einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Damals allerdings, bei meinem ersten Besuch, war es Sommer gewesen, jetzt lag Schnee, viel Schnee. Und alles sah anders aus. Noch prachtvoller, noch anmutiger. Ich war überwältigt. So schön hatte ich es mir nicht vorgestellt. Zumal das Wetter am Tag meiner Ankunft optimal war: minus zehn Grad, wolkenlos und windstill, leuchtend blauer Himmel. Die Sonnenstrahlen glitzerten millionenfach über die Schneedecke; die Kiefern und niedrigen Birken waren so stark eingeschneit, dass man die Äste kaum mehr erkennen konnte, und ringsumher herrschte eine beinahe überirdische Stille.
In dem kleinen Ort, der eigentlich nur ein Weiler war, gab es einen Lebensmittelladen, eine winzige Tankstelle und ein garagengroßes Selbstbedienungscafé. Ich zögerte nicht lange und ging hinein. Jetzt musste ich mich durchfragen und Erkundigungen einziehen. Ich wusste von meinen früheren Reisen, dass verstreut in der Wildnis, vorwiegend am Ufer des Sees, Hütten und Blockhäuser standen. Viele gehörten einheimischen Rentierbauern, die sie selbst nutzten oder auch vermieteten, andere waren reine Feriendomizile, meist im Besitz von finnischen Stadtbewohnern, die einige Wochen des Jahres im hohen Norden verbrachten. Im Café kam ich sofort mit einer freundlichen Frau mittleren Alters ins Gespräch. Auf Englisch. Sie war offensichtlich die Chefin des kleinen Ladens und saß, als ich eintrat, gelangweilt an einem Tisch und las Zeitung. Sonst war niemand in dem Raum. Ich sei der erste Tourist seit Wochen, erzählte sie mir. Zu dieser Jahreszeit kämen kaum Fremde in die Gegend. Nur ab und zu würde ein Auto aus »Europa« (so drückte sie es aus), das auf der Durchreise nach Norwegen war, für einen Kaffee bei ihr Station machen. Ich hatte mich an ihren Tisch gesetzt, bewusst so, dass ich in Reichweite ihres Gehirns war. Ich wollte testen, wie es wäre, mit gänzlich fremdsprachigen Gedanken konfrontiert zu werden. Und schon bald musste ich innerlich schmunzeln, denn ich verstand in der Tat kein einziges Wort. Ein undefinierbares Kauderwelsch prasselte auf mich ein - und ich geriet darüber in eine fast euphorische Stimmung. Endlich konnte ich einem Menschen wieder so wie früher gegenübertreten, ohne von seinen geheimen Überlegungen abgelenkt, ernüchtert oder enttäuscht zu werden. Den niedrigen Geräuschpegel in meinem Kopf nahm ich dafür sehr gern in Kauf. Nur einmal, während einer kurzen Gesprächspause, erhielt ich doch eine Information über die Frau, mit der ich etwas anfangen konnte. Ich »sah«, dass sie in einer melancholischen Stimmung war. Das hatte ich vorher nicht bedacht: Die Gefühle der Menschen würde ich weiterhin wahrnehmen können, blieben mir ihre Gedanken auch verschlossen. Diese neue Erkenntnis allerdings beunruhigte mich nicht sonderlich. Ich suchte ja die Einsamkeit.
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