Der geduldige Tod (German Edition)
Internetseite für misshandelte Frauen, wo sie ebenfalls ihre Nachrichten las und ein paar Sätze schrieb. Das Internet war voll von Menschen, die gelitten hatten und sich darüber austauschen wollten. Sie waren ihre einzigen Vertrauten, ihnen konnte sie ihre Gefühle und Gedanken mitteilen, denn sie lebten weit weg, blieben anonym und fremd. Ihre Gesichter waren lediglich kleine, verzerrte Bildchen, die echten Menschen kaum noch ähnelten.
***
Der Sand unter ihren nackten Füßen fühlte sich weich und immer noch heiß an, als Victoria am frühen Abend den Strand entlanglief. Die Sonne versteckte sich hin und wieder hinter weißen Wolken, die langsam und scheinbar schwerelos über den Himmel zogen. Weder das Versteckspiel der Sonne noch die späte Stunde hatte die Urlauber vertreiben können. Unzählige bunte Badehosen und Bikinis tummelten sich im Wasser, lagen auf Liegen und Badetüchern am Strand oder spazierten wichtig am Strand entlang. Dazwischen wurde Volleyball oder Fußball gespielt. Kinder kreischten, Mütter riefen nach ihnen. Und dazwischen brummten die Motoren der Boote, die Wasserskifahrer mit unterschiedlichem Können über die Wellen jagten. Auf dem Wasser der Lagune schwamm ein dünner, schillernder Film, der mit den sanften Wogen auf und nieder getragen und von der Strömung zerrissen wurde. Er roch nach Sonnenöl.
Victoria hatte ein leichtes Kleid angezogen, das in der warmen Brise zwischen ihren schlanken Beinen wehte. Die Schuhe trug sie locker in der linken Hand. Das war eine Tätigkeit, die ihr verstümmeltes Körperteil ohne Schwierigkeiten ausüben konnte. Ihr dunkelblondes, lockiges Haar hatte sie mit einem Band zusammengebunden, damit es ihr nicht ins Gesicht wehte. Sie sah viel jünger aus, jünger als die 34 Jahre, die ihr Körper bereits zählte. In ihrem Inneren fühlte sie sich seit der »Katastrophe«, wie ihre Eltern ihr Erlebnis mit dem Mörder entsetzt nannten, jedoch eher wie 84: unsicher, ungelenk, angstvoll und hoffnungslos.
Dennoch bemerkte sie, dass sie lächelte, als sie den Sand zwischen ihren Zehen spürte.
Etwa eine halbe Stunde lief sie den Strand entlang, ihre Waden spannten vom Gehen auf dem weichen Untergrund, ihre rechte Wange und Schulter glühten von den Sonnenstrahlen, die sie trafen.
Dann endete das öffentliche Ufer und sie stand vor einem Zaun, hinter dem sich eine riesige Hotelanlage verbarg. Sie bog links ab auf die Promenade, die in das Zentrum des Ortes führte.
Es herrschte reger Betrieb auf den Straßen. Die Hitze des Tages war vorüber, die Menschen gingen ihrem Tagwerk nach und die Touristen suchten Cafés und Restaurants auf, um sich nach den anstrengenden Aktivitäten am Strand zu stärken. Auch die kleinen Shops konnten sich über mangelnde Kundschaft nicht beschweren.
Victoria lief an den Schaufenstern vorüber, wobei sie die Auslagen betrachtete und hin und wieder über ihr Spiegelbild erschrak. Sie sah dünn aus, fast hager. Keine Spur mehr von ihren einst kraftvollen Oberarmen. Auch ihr Gesicht schien schmaler geworden, so dass ihre Augen größer wirkten und die Augenringe hervorhoben. Ihr angespannter Mund betonte den ernsten Gesichtsausdruck. Victoria war einst eine wunderschöne Frau gewesen, doch davon war nur noch ein Schatten übriggeblieben. Sie strich mit der Hand über ihre Wange und versuchte, ihr Spiegelbild anzulächeln. Nun sah sie aus, wie eine Schaufensterpuppe, steif und starr.
Schnell wischte sie das missglückte Lächeln aus dem Gesicht und ging weiter, zum Hafen.
Die Yachten und Segelboote glänzten weiß in der Nachmittagssonne. Ihre Rümpfe knarrten leise, wenn sie mit den Wellenbewegungen gegen den Steg und die Holzbohlen geschoben wurden. Manche Boote sahen spiegelblank weiß aus, kamen gerade von einer Tour zurück oder warteten auf den Kapitän und die nächste Reise. Andere hatten schon lange nicht mehr das offene Meer gesehen und träumten still von vergangenen Fahrten oder kommenden Abenteuern in den tosenden Wogen.
Am Rande gab es einen Kai, an dem die Kähne der Fischer lagen. Sie sahen weit weniger herausgeputzt aus und träumten wohl nicht von aufregenden Abenteuern. Sie waren schmutzig und rostig und ihre Farbe blätterte ab. Auf dem Deck stank es nach Fisch und Algen, ihre Kapitäne rochen nach Öl und Schweiß. Sie mussten jeden Tag aufs Meer hinaus und die Netze auswerfen, da blieb keine Zeit für Träume. Mancher Kahn bot Hochseeangeln für Touristen an, ein anderer transportierte Waren
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