Der geduldige Tod (German Edition)
ihr Studium als Meteorologin und zog dreihundert Kilometer weit weg. Victoria blieb zu Hause und begann ihre Ausbildung. Erst als Selene zurückkehrte und heiratete, vertiefte sich ihre Beziehung erneut, doch es war nicht mehr dasselbe. Sie hatten angefangen, ihre Leben in verschiedene Richtungen zu lenken. Aus Selene war eine hingebungsvolle Hausfrau und Mutter geworden, Victoria blieb mit ihrem Mann kinderlos. Nicht mehr jedes Geheimnis wurde mitgeteilt, und ihre Ehemänner hätten unterschiedlicher nicht sein können. Und nun hatte Victoria das Gefühl, dass Welten zwischen ihnen lagen, nicht nur ein Teil Europas. Selene war heil und unversehrt. Victoria zerbrochen.
»Kommst du wenigstens zu Papas Geburtstag? Er wird nächsten Monat 65.«
»Ich weiß. Ich werde ihm ein Päckchen schicken, aber ich werde nicht kommen.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.« Victoria gab sich Mühe, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Sie konnte nicht zurück. Noch lange nicht.
»Ich kann dich verstehen, Schwesterchen«, erwiderte Selene. »Auch wenn es ihm wehtun wird, und Mama ebenfalls. Mir und den Kindern sowieso. Aber ich kann dich verstehen.«
»Danke für deine Unterstützung. Ich bin noch nicht soweit.«
»Weißt du, seitdem du weg bist, denke ich viel mehr darüber nach, was dir passiert ist. Oder was mit anderen Opfern brutaler Übergriffe geschieht. Und ich merke immer wieder, wie verrückt es ist. Im Fernsehen, in den Zeitungen, in Krimis oder auch in den Nachrichten geht es immer nur um die Täter. Ob sie geschnappt werden, was ihre Motive waren, welche Urteile über sie gefällt werden. Was aus den Opfern wird, wie die sich fühlen, ob sie jeglichen Lebensmut verloren haben, ob sie überhaupt noch leben können, interessiert niemanden.«
»Ja.« Victorias Stimme klang wie ein Krächzen. Das hatte sie gemerkt. Solange sie wichtig war, als Kronzeugin benötigt wurde und dabei helfen konnte, den Mörder zu überführen, hatte man sich um sie gekümmert. Danach war sie unwichtig geworden. Niemand fragte danach, wie es ihr ging, wie sie sich fühlte. Niemand schenkte ihr nur einen Augenblick Aufmerksamkeit oder Fürsorge. Der Täter saß hinter Gittern, das Verbrechen war gesühnt. Und die Opfer vergessen. Dass sie noch immer schlimme Qualen litt, interessierte kaum jemanden.
»Wir sind immer für dich da«, sagte Selene. »Pass auf dich auf.«
»Danke. Du auch. Und wenn ihr herkommen wollt, ich habe eine verschlissene Couch, auf der man sicher gut schlafen kann.« Sie versuchte ein Lachen.
Selene verstand es richtig. »Ich werde es bei der Geburtstagsrunde mit allen besprechen. Vielleicht bringen wir lieber eine Luftmatratze mit.«
»Das geht auch.«
Sie tauschten noch ein paar Verabschiedungsfloskeln aus, dann legte Victoria auf.
Sie ging zurück in die Küche und brachte das zu Ende, was sie vorhin begonnen hatte. Danach saß sie mit ihrer Tasse Kaffee in der weniger zerstörten Hand schweigend auf der Terrasse, bis sie genug von der Aussicht hatte und einen Laptop-Computer aus dem Schrank holte und aufklappte. Sie gab eine Internetadresse für ein Forum ein, das sich den Opfern von Überfällen widmete, und überflog die Nachrichten, die sie erhalten hatte. Es waren mehrere leidenschaftliche E-Mails von Betroffenen darunter, die ihr Mut zusprachen und gute Ratschläge gaben. Bei den meisten hörte sie bereits nach zwei Zeilen auf zu lesen. Niemand konnte wirklich nachempfinden, was sie dachte und fühlte. Es gab keinen Menschen, der eine Situation erlebt hatte wie sie. Sie war ein Wunder, eine Sensation. Doch sie hätte alles darum gegeben, eine ganze normale Frau zu sein, mit einer langweiligen Vergangenheit, einer nörgelnden Familie, einfachen Hobbys und einem Faible für Liebesgeschichten und Krimis, wie die meisten Menschen.
»Du sollst nicht töten«, schrieb sie schließlich. »Die Menschen sind Monster, sind es schon immer gewesen. Es wird getötet für Nahrung, für mehr Land, für eine Religion, sogar für das Vergnügen. Dieser Tod ist widerlich und grotesk. Er zerstört alles und jeden, der mit ihm auch nur ansatzweise in Berührung kommt. Ich hoffe, ihr lasst euch von euren Erlebnissen nicht korrumpieren. Lasst den Tod und die Zerstörung nicht in euer Herz, werdet niemals wie sie. Ich fliehe vor ihm und ihnen und hoffe, dass ich wenigstens für den Rest meines Lebens von diesem Gräuel verschont bleibe.«
Sie schrieb noch weitere Gedanken auf, dann wechselte sie das Forum, ging auf eine
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