Der geduldige Tod (German Edition)
hübsch fand. Er wollte sie beeindrucken mit seinem Boot. Er wollte mit ihr ein paar schöne Stunden verbringen. Mehr nicht. Und wenn sie ihn nicht traf, wäre er traurig.
Und sie auch.
Zu diesem Ergebnis gekommen, sprang sie auf und zog sich an. Der Himmel war schon fast komplett erhellt, nur noch wenige Minuten, dann würde die Sonne aufgehen. Und er würde nicht warten, hatte er gesagt.
Sie suchte ein Shirt, das bis zu ihren Handgelenken reichte, damit sie die Narben verdecken konnte, eine bequeme, sommerliche Hose und ein Tuch. Schnell die Haare gebürstet, etwas Parfüm aufgelegt, dann war sie fertig.
Hastig kontrollierte sie, ob sie die Fenster geschlossen hatte, zog die Wohnungstür hinter sich zu und lief die Straße hinunter. Ihr Atem ging schnell und ihr Schuh drohte, in der Eile von ihrem Fuß zu rutschen, weil sie ihn nicht richtig angezogen hatte. Hell und warm ging die Sonne auf, verzauberte das Wasser im Hafen in eine funkelnde Oberfläche. Weckte Touristen und Möwen auf.
Erst als sie den Steg betrat, wurde ihr Schritt langsamer. Die Segel waren gesetzt, aber das Boot noch da. Er hatte auf sie gewartet.
Er schmunzelte, als sie mit geröteten Wangen auf ihn zugelaufen kam.
»Hast du den Wecker nicht gehört?«
Sie schüttelte verlegen den Kopf und strich sich mit der Hand durch das Haar, das vom Morgenwind ganz durcheinander geraten war. »Ich konnte nicht schlafen.« Das war zwar keine logische Erklärung auf seine Frage, doch er beließ es dabei und bohrte nicht weiter.
»Komm schnell an Bord. Ich hoffe, du hast noch nicht gefrühstückt.«
Er reichte ihr die Hand, damit sie mühelos den schmalen Steg, der das Segelboot mit dem Kai verband, überschreiten und an Bord springen konnte. Sobald sie sich im Boot befand, holte er den Steg ein, machte die Leinen los und warf einen kleinen Motor an, der sie aus dem Hafen und aufs offene Meer hinausbringen würde.
Eine frische Windbö zerrte an ihrem Haar und an ihrem Tuch. Schnell griff sie in ihr Gesicht, um die Strähnen aus den Augen zu wischen, doch dabei rutschte ihr Tuch von der Schulter. Es wehte auf die Reling, dann auf den Steg. Sie wollte hinterhereilen, doch das Boot hatte bereits abgelegt. Nur einen Moment später hatte die nächste Bö das Tuch ergriffen und davongewirbelt, bis es irgendwo zwischen den Yachten verschwunden war.
»Ich kaufe dir ein neues Tuch«, rief Francisco ihr zu. »Ein wunderschönes, so schön wie du.«
Victoria verzog den Mund zu einem Lächeln und nickte. Dann beobachtete sie, wie er am Steuer geschickt manövrierte und sie zwischendurch mit einem breiten Grinsen bedachte. Er war offenbar sehr glücklich über ihre Anwesenheit.
Sie stellte sich an die Reling. Der Hafen entfernte sich langsam, zuerst konnte sie die Fischer kaum noch ausmachen, die ihren Fang von den Kähnen luden und zum Fischmarkt brachten. Dann verkleinerten sich die Boote zusehends, bis der Ort zu einem Klecks auf einem dicken Streifen Land wurde, der sich scheinbar endlos am Horizont erstreckte.
»Und? Wie gefällt es dir?«, rief Francisco vom Ruder. Er hatte eine helle Strickmütze aufgesetzt, um seinen Kopf vor dem Wind und den Sonnenstrahlen zu schützen.
»Es ist sehr schön«, erwiderte Victoria schlicht. Sie liebte es, wie der Wind um ihre Nase wehte, das leichte Auf und Ab des Bootes in den Wellen. Der Klang des Segels in der steifen Brise wirkte beruhigend auf sie, weil sie so etwas noch nie gehört hatte. Und das Schlagen der Wellen am Schiffsrumpf hatte fast etwas Einlullendes. Sie fühlte sich gut.
»Du lächelst«, sagte er zufrieden. »Dann ist es wirklich schön.«
Sie wandte sich vom Anblick des Ufers ab und ihrem Kapitän zu. »Warum baust du keine Boote mehr?«
»Wer sagt denn, dass ich es nicht mehr tue? Ich mache nur eine Pause.«
»Warum?«
Er zögerte mit der Antwort, dann zuckte er mit den Schultern. »Wir alle haben unsere dunklen Stunden erlebt. Was ist mit deinen Händen?«
Schnell versteckte sie ihre Handgelenke unter den Ärmeln ihres Shirts.
»Nichts.«
Er respektierte ihr Schweigen. »Hast du Hunger?«
Sie nickte.
»Ich bringe uns zum schönsten Fleck auf dieser Welt, dort können wir frühstücken.«
»Wo ist das?«
»Lass dich überraschen.«
Er grinste erneut, dann steuerte er das Boot Richtung Norden, auf einen Landzipfel zu, der wie eine Schranke steinig und karg ins Meer hineinragte. Als sie etwa eine halbe Stunde gesegelt waren und sich dahinter eine Bucht öffnete, bekam Victoria
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