Der geduldige Tod (German Edition)
grinste frech.
Sie wandte sich ab. »Mit Tomaten kann ich mehr anfangen als mit Booten«, erwiderte sie kokett. Es fühlte sich schon fast richtig normal an.
»Gut, dann zeige ich dir morgen, dass ich mit den Booten genauso gut umgehen kann wie mit den Tomaten. Sonnenaufgang. Hier.« Er grinste immer noch.
»Eh, Francisco«, rief eines der Mädchen vom Geländer. »Me estoy muriendo de la sed!«
Sie war Anfang Zwanzig, trug ihr dunkles, von blonden Strähnen durchzogenes Haar offen, wobei sie ihren Kopf immer wieder nach hinten warf, um ihr Gesicht von den Haaren zu befreien. Sie musterte Victoria widerwillig mit zusammengekniffenen Augen.
Er drehte sich kurz zu dem Mädchen um, dann wandte er sich erneut Victoria zu. »Wir sehen uns morgen früh«, wiederholte er. »Nicht zu spät kommen. Ich lege pünktlich zum Sonnenaufgang ab.«
Victoria antwortete nicht, sondern kehrte ihm mit klopfendem Herzen den Rücken zu und lief den Steg zurück. Als sie an der »Rainbow« vorüberkam, betrachtete sie das stolze Boot im Vorübergehen genauer. Es war weiß und wunderschön, mit einem schlanken Bug und warmen, braunen Planken. An manchen Stellen hatte die Farbe an der Schiffswand bereits Risse bekommen, aber sie waren klein und schmal, kaum sichtbar. Unter der Wasserlinie klebten Muscheln und Seetang, auf dem Namen haftete Möwenkot. Das Boot sah majestätisch und sicher aus.
Sie bemerkte, dass sie lächelte, als sie daran vorüberging. Und sie spürte abermals seine Blicke im Rücken, doch sie drehte sich nicht um.
Es bedarf wohl keiner weiteren Erwähnung, dass Victoria in dieser Nacht wieder einmal nur sehr unruhig schlief. Selbst das Glas warme Milch, das sie vor dem Einschlafen immer trank, half nicht. Doch dieses Mal plagten sie keine Albträume, aus denen sie schweißgebadet und mit panisch klopfendem Herzen aufwachte, sondern sie ging der Frage nach, ob sie das Angebot des jungen Mannes annehmen und tatsächlich mit ihm auf eine Bootstour gehen sollte. Es sprach einiges dagegen, zum Beispiel, dass er ein Wildfremder war, von dem sie nur den Vornamen kannte, sonst nichts. Außerdem wusste sie nicht, wie sie auf die Enge eines Segelbootes reagieren würde, ob sie Panik verspüren würde wie bei dem Konzert. Und zudem hatte sie keine Ahnung, was der Junge wirklich von ihr wollte. Er war jünger als sie, flirtete jedoch offen mit ihr. Mit ihm alleine auf einem Boot mitten auf dem Meer zu sein, konnte ein unschönes Ende nehmen, falls er unlautere Absichten hegte.
Auf der anderen Seite lechzte sie danach, endlich wieder die Nähe eines echten Menschen zu spüren, dem sie vielleicht sogar vertrauen konnte. Mit einem Mann Zeit zu verbringen, der kein Teil ihrer Vergangenheit war, der sie nicht an die »Katastrophe« erinnerte. Und sie sehnte sich danach, wieder die Leichtigkeit des Seins zu spüren, das Gefühl von Glück und Unbeschwertheit zu genießen, die düsteren Gedanken und Erinnerungen endlich abzustreifen.
Als die Morgendämmerung anbrach, war sie noch keine Spur schlauer. Sie hatte sich die halbe Nacht im Bett gewälzt, war zwischendurch eingeschlafen, um kurz danach mit einem Kribbeln im Bauch wieder aufzuwachen. Als der erste schmale, hellblaue Streifen am östlichen Horizont sichtbar wurde, stand sie auf. Unentschlossen sah sie aus dem Fenster und beobachtete, wie sich der Himmel über den Bergen immer heller färbte, bis sich aus dem schwarzen Schattenmeer einzelne Konturen lösten und Bäume, Blätter und Steine immer deutlicher sichtbar wurden. Danach stahl sich ein rosafarbener Schein auf das Laub und in die Gräser, sie schimmerten geheimnisvoll und unirdisch, bis sich der heller werdende Himmel im Meer widerspiegelte und das Wasser einzufärben schien.
Bewegungslos starrte sie auf die Wölkchen, die sich im Farbenspiel des Himmels räkelten. Bald war Sonnenaufgang.
Ihr Herz klopfte. Was sollte sie tun?
Fieberhaft überlegte sie erneut, wog Für und Wider ab und wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Denn was sollte sie tun, wenn Francisco über sie lachte? Ihre Narben, die inneren und äußeren, verabscheute? Was, wenn das überhaupt nicht sein Boot war? Wenn er vielleicht auch ein Mörder war?
Sie schüttelte den Kopf. Wenn ihre seelischen Wunden jemals heilen sollten, musste sie mit solchen düsteren Hirngespinsten aufhören. Sie musste normale Dinge tun, um eines Tages vielleicht ein normales Leben führen zu können. Francisco war nur ein junger Mann, der sie mochte und
Weitere Kostenlose Bücher