Der geduldige Tod (German Edition)
über den eine feine Gänsehaut kroch.
»Können wir vielleicht draußen trinken? Ich fürchte, hier drin ist es zu kalt für mich.«
Er stimmte sofort zu, und die beiden stiegen die Stufen hinauf, die zurück in den Garten führten. Dort geleitete er sie zu einer Stelle, wo sie ungehinderten Blick auf das Tal hatten. In der Ferne blitzte das Meer zwischen Pinien und Felsen hindurch.
Schweigend setzten sie sich ins Gras. Ein paar Spatzen flatterten auf und flogen zu einem der nächsten Bäume, wo sie sich in den Zweigen niederließen. Victoria beobachtete einen Käfer, der zwischen zwei Grashalmen balancierte.
»Hat Gott wirklich einen Plan für uns?«, fragte Francisco völlig unvermittelt, während er in die Ferne starrte. »Meinst du, er sitzt da oben und überlegt, wen er an seine Seite holen, wen er strafen und wen er belohnen möchte?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht einmal, ob ihm überhaupt bewusst ist, was hier unten vor sich geht. Inzwischen denke ich, er hat keine Ahnung, was passiert. Und noch weniger glaube ich, dass er einen Plan hat. Was sollte das für ein Plan sein, der so etwas zulässt, was mir widerfahren ist?«
»Und wenn doch, ist er sehr grausam.« Er klang traurig und verloren.
»Oder wir wissen nicht, was er wirklich damit bezweckt. Nach dem Überfall, während der Reha, kam der Pfarrer der Gemeinde, in deren Kirchenchor ich gesungen hatte, zu mir und wollte mir weismachen, dass Gott mich testen wollte. Und dass er mich gerettet habe und ein höheres Ziel mit mir verfolge. Aber ich konnte es nicht glauben. Was sollen denn das für Tests sein? Wofür? Und welches höhere Ziel will er für mich? Ich möchte einfach nur ein normales Leben führen. Auf alles andere kann ich gut verzichten.«
Sie beobachtete Francisco, wie er gedankenverloren ins Nichts sah. Sein feines Profil, die schmale Nase und das energische Kinn, die leichte Wölbung seiner Stirn. Er sah sehr attraktiv aus. Und in diesem Moment sehr verletzlich. Sie wünschte sich, dass er sie aufzog und dabei seinen Mund ein Lächeln umspielte, denn dann fand sie ihn am anziehendsten. Doch er blieb ernst.
»Er hat mir meine Familie genommen«, sagte er auf einmal. »Meine Eltern und meine Schwester sind voriges Jahr auf dem Weg zum Festland bei einem Fährunglück ums Leben gekommen.«
»Das tut mir sehr, sehr leid.« Victoria fühlte eine warme Welle des Mitgefühls durch ihre Glieder strömen. Sie wusste jedoch nicht, was sie dazu sagen sollte, was nicht hohl oder leer klingen würde. Daher nahm sie einfach seine Hand in die ihre. »Sie sind jetzt in einer besseren Welt.«
»Sind sie das wirklich?« Er sah sie mit einem bitteren Gesichtsausdruck an. »Vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, wo sie sind. Jedenfalls nicht hier bei mir.«
Sie drückte seine Hand. »Solange du dich an sie erinnerst, sind sie bei dir.«
Er drückte ihre Hand ebenfalls und nickte. »Ich denke jeden Tag an sie. An meine kleine Schwester, die mich immer geneckt und wegen jeder Kleinigkeit um Hilfe gebeten hat. An meine Mutter, die ich bis heute dafür bewundere, wie sie die Arbeit im Haus, im Weinberg und mit uns Kindern gemeistert hat. Und an meinen Vater, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Das Unglück ist jetzt genau 324 Tage her, das sind 324 Tage, in denen ich mich an sie erinnere, und sie fehlen mir trotzdem. Du hast Recht, Gott hat keine Ahnung, was hier los ist. Wir sind ihm egal.«
Sie antwortete nicht, sondern drückte nur wieder seine Hand. Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie nicht allein war mit ihrem Elend und den schrecklichen Erinnerungen. An ihrer Seite saß jemand, der ebenfalls litt und von Zweifeln und Albträumen heimgesucht wurde. Jemand, der sie brauchte, genauso wie sie war – zerbrochen und verkrüppelt.
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Er lehnte seinen Kopf an den ihren und hielt ihre Hand fest. So saßen sie, bis die Hibiskusblüte in ihrem Haar in der Hitze des Tages verdorrte und auf den Boden fiel.
***
An diesem Abend summte Victoria ein Lied, als sie ins Bett ging, aber nicht, um die nächste Panikattacke zu vertreiben, sondern weil sie sich gut fühlte. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren fühlte sie sich beschwingt und heiter. Keine düsteren Gedanken geisterten durch ihr Hirn. Stattdessen freute sie sich auf den nächsten Morgen. Denn Francisco hatte sie zu einer weiteren Bootstour eingeladen. Und dieses Mal wollte sie vorbereitet sein. Sorgsam legte sie ihren
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