Der geduldige Tod (German Edition)
als sie nach Sonnenuntergang vor dem Telefon saß, ließ sie den Hörer liegen. Es ging ihr nicht gut, allerdings stahl sich dieses Mal ein weiteres Gefühl in ihr Herz. Es fühlte sich anders an, irgendwie fremd und vertraut zugleich und kam immer dann, wenn sie an Francisco dachte. Es erinnerte fast ein wenig an Sehnsucht. Und an das vorsichtige Flattern von Schmetterlingen in ihrem Bauch.
Daher rief sie ihn nicht an, sondern beschloss, ihn am nächsten Morgen auf dem Markt zu treffen.
Es war noch sehr früh, als sie sich auf den Weg machte. Die Sonne hatte gerade erst die Berggipfel erklommen, die Blütenköpfe in den Hainen und am Straßenrand waren noch halb geschlossen. Einige Flecken auf dem Markt, wo sonst Stände standen, waren leer oder die Bauern gerade dabei, ihre Waren aufzubauen. Auch der Stand von Francisco fehlte noch. Ihr Herz setzte für einen Moment aus und sie befürchtete, er würde heute vielleicht gar nicht kommen. Doch dann entdeckte sie ihn an einem kleinen Laster, von dem er Kisten mit Tomaten und Zucchini ablud.
Sie gesellte sich zu ihm. »Ich kann zwar nicht beim Tragen helfen, aber Anweisungen geben kann ich gut.« Sie versuchte ein neckisches Lächeln.
Er drehte sich zu ihr um und schmunzelte, als er ihre Stimme hörte. »Guten Morgen! So früh schon wach? Wie geht es dir?« Er klang besorgt.
»Es geht mir gut«, erwiderte Victoria. »Und ich bin so früh hier, weil ich mich bei dir entschuldigen möchte. Es tut mir leid, dass ich den Ausflug verdorben habe.«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Du musst dich nicht entschuldigen. Seitdem ich weiß, was passiert ist, kann ich dich gut verstehen. Und es tut mir leid, dass ich nicht mehr Rücksicht auf dich genommen habe. Eine Bootstour mit einem für dich völlig Fremden war eine total blöde Idee.«
»Das war eine sehr schöne Idee«, antwortete sie leise. »Eigentlich möchte ich gar nicht, dass so viel Rücksicht auf mich genommen wird. Ich will einfach nur wieder normal leben und reagieren. Aber das braucht seine Zeit, und ich hoffe, ich habe dich nicht verschreckt.«
Erneutes Kopfschütteln. »Niemals! Und um dir das zu beweisen, zeige ich dir jetzt ein weiteres wunderschönes Fleckchen Erde. Wenn du willst.« Er legte fragend den Kopf schief.
»Gern. Aber was wird aus den Tomaten, wenn du sie heute nicht verkaufst? Sie werden verderben!«
Sie blickte zu den prallen, roten Früchten, die so reif und saftig aussahen, dass die Vermutung nahelag, sie würden den nächsten Tag nicht heil überstehen.
»Du hast Recht«, erwiderte Francisco und setzte die letzten Stiegen aus dem Laster auf dem Boden ab. Dann ging er zu einem der Bauern und besprach etwas mit ihm. Als er zurückkam, nickte er zufrieden.
»Die Tomaten werden verschenkt. Dann tue ich heute etwas Gutes für die Menschheit. Vielleicht sichert mir das einen Platz im Himmel.« Er verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln.
»Ganz sicher«, schmunzelte Victoria. »Wenn ich Gott wäre, würde ich dich zur gegebenen Zeit direkt an meine Seite holen.«
Nun lachte er. »Warten wir es ab. Aber jetzt komm mit.«
Er öffnete die Beifahrertür seines Wagens und ließ sie einsteigen. Sie hatte dieses Mal ein kurzes Shirt angezogen, das ihre Narben nicht verbarg. Aber zum ersten Mal schämte sie sich nicht dafür.
Er fuhr sie zu einem Grundstück in den Bergen. Es lag nicht weit entfernt vom Ort und hing malerisch in einem schmalen Tal, das sich zwischen zwei Bergkuppen langsam und gemächlich Richtung Meer zog. Ein stattliches Haus stand inmitten von Weinstöcken, dahinter standen Obstbäume und unzählige Tomatenpflanzen.
»Ist das der Garten deiner Eltern?«, fragte Victoria, als sie aus dem Auto sprang.
»Ja, aber er ist jetzt mein Garten.«
»Stammen die leckeren Tomaten, die ich bei dir immer kaufe, von hier?«
»Ja. Ebenso die Aprikosen und Pfirsiche von gestern.«
»Welcher ist der Aprikosenbaum, den du als Kind gepflanzt hast?«
Er deutete mit der Hand auf einen entfernt stehenden Baum, der immer noch voller Früchte hing. »Ich zeige ihn dir.«
Gemeinsam liefen sie einen schmalen Weg entlang, der zum Haus führte, an einem prächtigen Hibiskusstrauch vorbei, an dem sie abrupt stehenblieb. Es war eine Sorte, die sie bisher nur aus Lehrbüchern kannte.
»Das ist ein Hibiskus insularis«, rief sie erstaunt aus. »Eine der seltensten Arten. Die Blüten sind wunderschön.«
Der Strauch blühte blassrosa, die Blätter der Blüten waren nach unten
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